Die Mutter aller Stürme
Lake
Pontchartrain wieder einen Zugang zum Meer und schleift die ganze
Golfküste von Brownsville bis Panama City. Wenn die Sonne sich
demnächst wieder zeigt, wird sie einen wesentlich breiteren Golf
bescheinen – und einen mit wesentlich mehr Zuflüssen.
Die im Zentrum des Sturms gelegenen Karibischen Inseln werden bis
zu den höchsten Bergspitzen unter Wasser gesetzt, zerschlagen,
erodiert, zu neuen Formen geschliffen. Sie werden eine Wüstenei
von Schutt, Sand, Felsen und aufgetürmten Trümmern sein
– aber erst nach dem Ende des Sturms. Jetzt sind sie
zunächst einmal Orte, an denen Wasser und Wind wütend gegen
alle Hindernisse anrennen.
Und doch verblaßt dies alles neben den Auswirkungen der
Fallströme des neuen Sturms. Indem er Meerwasser wie ein
riesiger Schwamm aufsaugt, Wasser und Luft wesentlich effizienter
mischt und deshalb eine höhere Energieausbeute erzielt,
schüttet der große Hurrikan innerhalb von neun Stunden
mehr als zweitausend Tonnen Wasser pro Hektar –
fünfundzwanzig Zentimeter Regen – über dem ganzen
östlichen Drittel der Vereinigten Staaten aus, bevor der Sturm
einen abrupten Schwenk vollführt, um über den Atlantik zu
rasen und Energie aufzutanken. Dann sucht er Europa heim und regnet
noch nach drei Tagen tief im Innern von Kasachstan Salzwasser ab.
Der Mississippi ist nun fast so breit wie der Erie-See; der James
River schwemmt ganz Richmond ins Meer, und das Wasser steigt am blitz geschädigten Sockel des Washington-Denkmals
über zwanzig Meter.
In Georgetown werden die immer noch schwelenden Trümmer von
Harris Diems Haus von der Flut mitgerissen. Die brennenden
Überreste von Randy Householder, die noch nicht einmal geborgen
worden waren, werden mit dem Schutt vermischt und in den Atlantik
gespült, zusammen mit all den Clips der vergewaltigten und
getöteten Mädchen.
In seinen düsteren Träumen hat Harris Diem immer mit
seiner Enttarnung gerechnet. Aber vierzehn Jahre nach ihrem elenden
Tod ist es, als habe es niemals eine Kimbie Dee Householder
gegeben.
Karen wird immer richtig wütend auf sich, wenn sie daran
denkt, aber da ist es schon wieder… sie fragt sich, was Mary Ann
jetzt wohl tun würde. Es ist merkwürdig, wie facettenreich
das Leben doch ist… Karens Haar war zu dunkel, um es mit
Injektionen aufzuhellen, und weil ihre Hüften nur ein
bißchen zu breit waren, wurde sie vom Auswahlverfahren für Passionet ausgeschlossen.
Und das merkwürdige Resultat ist nun, daß, während
Synthi Venture sich mit einem gutaussehenden Jungen unten im warmen,
sicheren Mexiko aufhält, Karen Mary Ann im Hochhaus von Dance
Channel sitzt – dem größten Gebäude der
Vereinigten Staaten, so groß, daß der Herald Square sein
Hinterhof ist – und auf Manhattan hinunterschaut, das einem
wuselnden Ameisenhaufen gleicht.
Der Salzregen ist so schnell und hart gefallen, daß der
Bauingenieur die Regenrinnen mit dem Pumpensystem des Gebäudes
verbunden hat. Wie er ihnen bereits erklärt hat, ist das
Gebäude achtzig Stockwerke höher als das World Trade Center
und damit zu groß, um den Regen einfach durch die Schwerkraft
abzuleiten; deshalb sind auf jeder Etage Pumpen installiert worden.
Nun, da das Gebäude mit seiner Kapazität von einer
Viertelmillion Menschen größtenteils leer ist, war er in
der Lage, das Pumpensystem so zu modifizieren, daß es das
Regenwasser vom Dach und den Terrassen in die Kanalisation pumpt.
Der Dance Channel selbst belegt nur die obersten
fünfzehn Stockwerke, und obwohl das Gebäude massiv
konstruiert ist, schwankt es hier oben an windigen Tagen zu stark,
als daß man das ›Höchste Studio der Welt‹ allzu
oft benutzen könnte.
Karen hat großes Glück gehabt, daß sie eines der
Mikroappartements – ein Euphemismus für
›Schlafräume‹ – in dem Gebäude bekommen hat
– und da sie im einundachtzigsten Stockwerk arbeitet, ist sie
lange mit dem Aufzug unterwegs. Sie kann nirgendwo sonst hingehen,
und ihr Chef – ein großer, muskulöser, älterer
Mann namens Johnny Wendt – hat gesagt, daß jeder, der das
möchte, den Sturm hier abreiten dürfe. Jetzt haben sich
vielleicht tausend Leute zwischen dem vierzigsten und
fünfzigsten Stockwerk versammelt, hoch genug, um nicht zu
ertrinken und – wenn sie Glück haben – tief genug, um
nicht vom Wind weggeweht zu werden.
Das ist nicht viel, aber immer noch besser, als draußen zu
sein, sagt sie sich. Dort unten stauen sich Menschen und Fahrzeuge,
und nichts scheint mehr zu gehen,
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