Die Mutter aller Stürme
nicht beschädigt?«
»Weniger, als wenn das Gebäude einstürzte.« Er
grinst sie an, und sie lächelt zurück. Seit wann ist sie
nur so scheu? Offensichtlich bleibt er nur noch da, weil er mit ihr
sprechen will, und er ist ein netter Kerl.
Ihr Telefon läutet, und sie nimmt es vom Gürtel. Als sie
es aktiviert – »Mary Ann!«
»Ja, ich habe gerade eine Pause und wollte mich erkundigen,
ob du in Ordnung bist. Hast du es geschafft, aus Manhattan
herauszukommen?«
»Nein, aber ich glaube nicht, daß ich irgendwo sicherer
wäre als dort, wo ich jetzt bin«, sagt sie. »Nirgendwo
an der Ostküste ist man in Sicherheit, aber wenigstens bin ich
in einem Gebäude, das dieses Unwetter eigentlich aushalten
müßte.«
»Das ist immerhin etwas. Paß auf dich auf.«
»Du auch auf dich.«
Sie plaudern noch einige Minuten; obwohl Mary Ann sich sehr
verändert hat, seit sie zu Synthi Venture wurde und ihre
Karriere so richtig in Fahrt kam, muß man ihr eines lassen: Sie
hat sich nicht abgekapselt, sondern ist in Kontakt mit ihren
Bekannten geblieben. Es gibt nicht viel zu sagen – und es ist
immer möglich, daß das ihre letzte Unterhaltung ist, sagt
Karen sich, ein Umstand, dessen Erwähnung Mary Ann peinlich
vermeidet – aber sie verstehen sich auch ohne viele Worte.
Als sie Minuten später wieder einhängen, steht Johnny
immer noch unbeholfen in der Halle herum, und schließlich sagt
er: »Ich habe euer Gespräch zwangsweise
mitgehört… äh… und einen Blick auf deinen
Telefonmonitor geworfen, und… äh…«
»Mary Ann Waterhouse hat am Platz neben mir gearbeitet. Wir
sind oft zusammen auf Demonstrationen für Gleichberechtigung
gegangen, als ich noch an eine Karriere am Broadway glaubte«,
sagt Karen mit gewissem Stolz. »Ich kannte sie schon lange,
bevor sie zu Synthi Venture wurde.«
Johnny nickt, offensichtlich beeindruckt, und nun ist er anscheinend ein wenig scheu.
Sie schaut aus dem Fenster und sagt: »Heutzutage könnte
man natürlich als U-Boot-Kommandant am Broadway Karriere
machen.«
Nun lacht er nervös. Sie stehen lange Zeit am Fenster und
beobachten, wie das Wasser bis zum achten Stockwerk emporsteigt; viel
mehr können sie nicht tun. Die Energiechips werden das
Gebäude mit Strom versorgen, und im Moment braucht kaum jemand
die aktuellen Daten aus dem Rechner.
Schließlich hört man jemanden rufen, was denn auf der
der Stadt zugewandten Seite des Gebäudes los sei, und sie
versuchen, im Licht der Suchscheinwerfer etwas zu erkennen. Vierzig
Stockwerke hohe Gebäude stürzen ein, aber das World Trade
Center scheint standzuhalten.
Bei Anbruch der Dämmerung nehmen sie eine Mahlzeit zu sich;
das Wasser steigt immer noch, aber langsam, und schließlich
torkeln sie davon – in getrennte Appartements, denkt Karen ein
wenig sehnsüchtig – und schlafen ein.
Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen; es ist noch
viel Zeit. Erst in zehn Tagen, am dritten Oktober, wird das Wasser so
weit gefallen und so viel Schutt weggeräumt worden sein,
daß sie das Gebäude verlassen können. Dann werden
Millionen New Yorker tot und die Welt von Grund auf verändert
sein, aber für Johnny und Karen wird die größte
Unannehmlichkeit darin bestanden haben, daß sie in der letzten
Woche auf Sodawasser, Erdnußbutter und Mayonnaise verzichten
mußten.
Pater Joseph drängte die Menschen, die Evakuierung zu
akzeptieren, aber da sie schon einmal in der Kirche Zuflucht vom
Hurrikan gefunden hatten, glauben die Menschen, daß sie auch
diesmal wieder Glück haben werden. Alles ist seltsam vertraut
– dieselben Leute, das Kerzenlicht, dieselben Gerüche
– aber der Sturm wird schnell stärker. Er fragt sich, ob
das Gebäude vom Hurrikan weggeblasen wird.
Am meisten ärgert es ihn, daß er sich nicht dazu
überwinden kann, ihnen zu sagen, daß er es beim letzten
Mal nicht für ein Wunder gehalten hat, sondern einfach nur
für Glück. Viele andere Kirchen waren wahrscheinlich
weggeschwemmt worden.
Er fragt sich, was er ihnen überhaupt sagen soll. Das Wasser
ist an der Mündung des Shannon abgeflossen, nicht umgekehrt, und
der Rundfunk sagt, daß der gigantische Hurrikan, der die
Vereinigten Staaten verwüstet hat, hierher unterwegs ist. Er hat
Vettern in Boston, von denen er kein Wort gehört hat… Man
sagt, die meisten Flüsse seien so hoch gestiegen, um die
Städte hier zu zerstören, und daß Florida
verschwunden sei…
Man hört ein Rumpeln wie von einem sich nähernden Zug,
und die Menschen drängen sich
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