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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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Funken der Sonne zu
berühren scheint, während sein Schweif so weit in den Zenit
hinaufreicht – das ist eine Erfahrung, die er nicht missen
möchte.
    Am sechsundzwanzigsten passiert er in dichtem Abstand die Sonne,
und jedes Kabel, jede Strebe und jede Leitung scheint zu schreien. Er
ist schon zu nahe dran, als daß er sich mit einem von den
›Schlaumeiern‹ oder mit Louie-auf-dem-Mond
verständigen könnte, und sowieso ist er zu
beschäftigt, um sich von irgend etwas ablenken zu lassen. Die
Oberfläche von 2026RU ist ein brodelndes Chaos, und inmitten der
Wirkung der Gezeiten und plötzlichen Austritte von Gas und
Wasser stürzt oft ein Plasma-Turm auf die Oberfläche,
kostet ihn Schub und jagt ihm obendrein eine Heidenangst ein. Er
spürt jedes Stöhnen und jeden Schrei, als die inneren
Strukturen sich unter dem Druck von Tausenden Tonnen fließenden
Eises verwinden und biegen. Die Oberflächeninstrumente sind im
grellweißen Schein seines Halos nicht abzulesen, als die
große, lodernde Sonne, die hier viermal so groß wirkt wie
von der Erde aus betrachtet, den von ihm emittierten Gasschleier
energetisch anreichert. Wenigstens streut der Halo das Sonnenlicht
so, daß es das Eis nicht direkt anstrahlt.
    Stundenlang versucht er, den durch die abfallenden Komponenten
verursachten Schaden zu reparieren. Urplötzlich verschwinden
Roboter in Spalten und Rissen oder werden in Tunneln eingeschlossen.
Eine ganze Prozessoren-Bank in der Nähe der Oberfläche
fällt ab und stößt dabei einen elektronischen Schrei
aus, der einem Schmerzensschrei zum Verwechseln gleicht. Er verliert
das Gefühl für seine physikalische Konfiguration; er ist
nicht imstande, alle seine Teile zu lokalisieren, und seit Stunden
versucht er nun schon, seine Kommunikations-Topologie (deren Elemente
sich miteinander unterhalten) mit seiner physischen Gestalt
abzugleichen; solange ihm das nicht gelingt, kann er sein
Bewußtsein nicht in sichere Prozessoren transferieren, sondern
nur hoffen, daß sein Verstand weiterarbeiten wird.
    Die Sonne ist groß und übt eine starke Anziehungskraft
aus. Louie benötigt den größten Teil des Tages, um
die der Erde abgewandte Seite der Sonne zu umfliegen und
schließlich wieder Kurs in die kalten Weiten des Weltalls zu
nehmen. Der Merkur huscht wie ein Blitz an ihm vorbei, und Louie
nutzt seine Gravitation, um auf die Venus einzuschwenken und sich in
Gegenrichtung von ihr abbremsen zu lassen. Einen Moment lang blendet
der riesige Halo des Kometen den ganzen winzigen Planeten aus, und
dann ist er an ihm vorbei und schreit am achtundzwanzigsten zur Venus
hinauf. Als größerer Planet mit einer dichteren
Atmosphäre wird Venus von Louies Außensensoren als helle,
weiße Kugel wahrgenommen. Bei der Geschwindigkeit, mit der er
sich fortbewegt, zieht sie blitzartig an ihm vorbei wie zuvor Merkur,
aber er spürt ihre Anziehungskraft stärker. In den letzten
paar Stunden hat er die Schäden größtenteils behoben,
einige Teile von sich gefunden und wieder angeschlossen und den
Restmüll in die automatischen Fabriken gekippt, wo er zu
Ersatzteilen verarbeitet wird.
    Er wird es schaffen. Kaum glaublich, aber wahr. Ein schneller
Schwung um das Erde-Mond-System, eine dichte Annäherung an beide
Himmelskörper (und das merkwürdige Gefühl, daß
Louie-auf-dem-Mond ausgreift, um sich wieder mit ihm zu vereinigen,
nun, da die Zeitdifferenz gegen Null geht), die restlichen Triebwerke
brüllen auf… und Louie transferiert sich in L-4.
    L-4 ist weniger ein Ort als vielmehr eine Lokalisierung; es ist
einer der ›Lagrange-Punkte‹ oder
›Librationspunkte‹, an denen die Gravitation der Erde und
des Mondes zusammenwirken, um den Orbit zu stabilisieren. L-4
befindet sich oberhalb des Mondes an einem Punkt im Orbit, der die
Spitze eines gedachten gleichschenkligen Dreiecks markiert, dessen
Grundlinie durch die Mittelpunkte der Erde und des Mondes verlaufen
würde. L-4 ist also von der Erde und vom Mond gleich weit
entfernt.
    Aber der Halo eines Kometen reicht weit über seinen Eiskopf
hinaus; als Louie zur Ruhe kommt, expandiert der Halo aus Gas immer
noch, wobei er indes nicht mehr durch eine Bewegung verwischt wird.
Schließlich ist er größer als die Erde selbst,
obwohl seine Dichte geringer ist als die der Luft in der
Stratosphäre. Von den wenigen Abschnitten der Erde aus, an denen
der Himmel heute klar ist, leuchtet 2026RU (um ihn physikalisch zu
benennen) oder Louie (um ihn spirituell zu benennen), heller als
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