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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Herrera so viele zubereitet
hat, aber offensichtlich weiß Señora Herrera besser
über den Appetit eines jungen Mannes Bescheid als Mary Ann
–, und erwidert dann: »Nein, das war nicht dumm, sondern
höflich. Willst du es wirklich hören?«
    »Auf der ganzen Welt weiß fast jeder, was ich
fühle; und was ich jetzt wissen möchte, ist, welche
Gefühle jemand hat, der nicht so kaputt ist wie ich. Also
erzähl mir bitte etwas von dir.«
    Er zuckt die Achseln. »Es klingt zwar wie ein Klischee, aber
das erste, was mir in den Sinn kommt, ist, daß es nicht viel zu
erzählen gibt. Und was ich dann sagen möchte… nun, ich
arbeite hier an der Oberschule von Tapachula, als Tutor im
Maschinenbau-Propädeutikum. Eigentlich bin ich
Maschinenbau-Student an der U des Az, aber ich habe ein
Urlaubstrimester eingelegt. Meine Aufgabe besteht in der Betreuung
von Jugendlichen, die sich in Naturwissenschaften und Mathematik auf
die Technische Hochschule vorbereiten… nur…« Sein
Blick scheint über ihre Schulter einen tausend Meilen entfernten
Punkt anzuvisieren.
    »Nur?« fragt sie, und ein Teil von ihr fängt in
diesem Augenblick Schwingungen auf, die Synthi Venture sicher
einzuordnen wüßte, vielleicht besser noch als Mary Ann. Er
ist ein stattlicher – Teufel, ein schöner - Junge,
und das Kerzenlicht spielt über sein gutgeschnittenes,
betrübtes Gesicht… eine gute Szene in einer Dokumentation
über einen Dichter der Romantik…
    »Nur«, sagt er schließlich, »gibt es da
dieses Mädchen.«
    Mary Ann hält es für eine großartige Geschichte,
und was es zu einer wahrhaft großen Geschichte macht, ist die
Tatsache, daß dieser Junge weitaus aufrichtiger ist, als sie
oder die Leute, mit denen sie bisher zusammengearbeitet hat, es
jemals sein werden. Er wird tatsächlich von einer einzigen
großen Liebe verzehrt, und es ist wirklich die einzige, die er
sich jemals erhofft. Und er ist so traurig – und so
schön.
    Mary Ann gratuliert sich zu ihrer Intelligenz und ihrem Zynismus,
und sie hat in beiderlei Hinsicht recht. Aber etwas, das sie sich nur
selten eingesteht, ist die Tatsache, daß Synthi Venture, will
sie ihr Publikum wirklich in ihren Bann ziehen, imstande sein
muß, die Gefühle zu zeigen, zu denen ihre Zuschauer auch fähig sein wollen – und das bedeutet, daß
Mary Ann schon am Anfang einen Teil von Synthi verkörpert hatte,
und dieser Teil ist mit der Zeit noch viel größer
geworden. Obwohl sie also dumm und geil ist, rührt sie die
Geschichte der unglücklichen Liebe dieses armen Jungen dennoch
an, und folglich tut sie das Verführerischste, was ein
menschliches Wesen nur tun kann – sie läßt
Faszination erkennen.
    Jesse sieht das und interpretiert es so, daß sie eine
wirklich gute Zuhörerin sei, der erste Mensch, der sich in seine
Lage hineinversetzt, und er empfindet einen Anflug von Mitgefühl
für sie – sie ist eindeutig eine liebenswerte Person, deren
Leben nur aufgrund der Umstände verpfuscht wurde. Er ist sehr
stolz auf seine Fähigkeit, ihr zu vergeben… und, he, im
Kerzenlicht weiß er nicht, ob er jemals schon eine so
schöne Frau gesehen hat. »Genug von mir geredet«, sagt
er schließlich. »Wie gesagt, alles nur Klischees.
Äh… morgen habe ich meinen freien Tag. Hättest du Lust
auf was ganz Verrücktes, zum Beispiel einen langen
Strandspaziergang?«
    »Sehr gern«, erwidert sie, und ihr Lächeln ist so
intensiv und geheimnisvoll, daß es ihm scheint, es würde
Jahrhunderte voller Schmerz zum Ausdruck bringen, aber auch eine
wundervolle Wärme. »Entzückend«, sagt er und
erkennt, daß sie sehr gut miteinander harmonieren.
    Sie liebt es, wie er ›entzückend‹ sagt – es
erinnert sie an einige Jungen, mit denen sie während ihrer
Schulzeit ausgegangen ist –, und plötzlich weiß auch
sie, daß sie sehr gut miteinander harmonieren.
     
    Louie Tynan bringt Stabsärzten die Geduld eines Piloten
entgegen – sprich, gar keine. Und irgendwie müssen sie das
auch spüren, denn sie tauchen immer dann auf, wenn er ohnehin
schon alle Hände voll zu tun hat.
    Er kennt Dr. Wo schon lange Zeit, und natürlich gerade in dem
Moment, wo er kurz vor dem Flug zum Mond steht, ruft Wo bei ihm an
und eröffnet ihm, daß er eine
Gesundheitsüberprüfung über sich ergehen lassen
müsse.
    Wenn man Louie fragt, so handelt es sich bei der
Weltraum-Neurologie um eine ziemlich überflüssige Disziplin
– in psychischer Hinsicht hat er nie irgendwelche
Veränderungen registriert, nur Muskelschwund,

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