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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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anderer
Leute ausführt – und dennoch würde er nicht einmal im
Traum daran denken, den Job aufzugeben, nicht um alles in der Welt.
Für persönliche Präferenzen ist hier kein Raum.
    Wie immer lösen bei ihm die Worte ›kein Raum…‹
ein leises Summen im Hinterkopf aus, als ob sich dort eine winzige
Klapperschlange zusammenrollen würde. Er denkt an die mit Clips
bestückten Regale im Keller, denkt an seine hochwertige
Ausrüstung dort unten – und verdrängt den Gedanken
wieder, wie er es in der letzten Zeit fast ständig getan
hat.
     
    Jesse weiß mittlerweile, daß Mary Ann Waterhouse eine
extrem kaputte Frau ist – mehr weiß er im Grunde auch
nicht über sie –, aber jetzt, da ihre Geilheit verflogen
ist, oder was immer es auch gewesen war, macht sie einen recht netten
Eindruck. Und die weichen, mit Lamm, rohen Zwiebeln und Tomaten
gefüllten Tacos sind ziemlich gut, so daß bei der ganzen
Sache wenigstens eine Mahlzeit für ihn drin ist, selbst wenn er
der Ansicht ist, die ganze Erfahrung sei zu irre, als daß seine
Freunde sie ihm glauben würden.
    Nachdem sie sich in ein weißes, weiches und fließendes
Gewand gehüllt hat, ist sie sogar hübsch, und im
Kerzenlicht wirkt sie nicht mehr so alt und verlebt.
    Nach einer Weile sagt sie zu Jesse: »Ich schulde dir wohl
eine Erklärung, aber um die Wahrheit zu sagen, Jesse, ich
weiß nicht, ob ich eine parat habe. Ich habe ziemlich viel Zeit
damit verbracht, mit dem Bus rüber nach Puerto Madero zu fahren
und nur weinend am Strand entlangzugehen. Ich wollte wirklich nur mal
versuchen, wie ein ganz normaler Mensch unter die Leute zu
gehen.«
    »Ich glaube, du hast wirklich einen anstrengenden
Beruf«, sagt Jesse und kommt sich schon ziemlich blöd vor,
noch bevor er den Satz beendet hat.
    »Ja.« Eine Minute lang kaut sie auf etwas herum und
schluckt es dann hinunter. »Das weiß eigentlich jeder,
aber im XV wird es unterschlagen. Hast du schon mal vom fuzz gehört?«
    »Äh, ich kenne das Wort. Es bezeichnet die Art, wie du
deine private Identität bewahrst, nicht wahr?«
    Sie nickt. »Ja, das ist die offizielle Version. Willst du
einmal etwas Schlimmes hören?«
    Resigniert breitet er die Hände aus; wenn das alles ein
Vorspiel gewesen ist, um sich einen Gesprächspartner zu
verschaffen, dann muß er sein Interesse eingestehen – als
ob man einen Felsen umstürzen würde, um nach Käfern zu
suchen. Und etwas in ihm verlangt nach der ganzen Geschichte.
    Mittlerweile hat Mary Ann Jesses Reaktion registriert und sie
indes ganz anders interpretiert. Sie war ohnehin schon schockiert
wegen der Art und Weise, wie sie diesen armen Jungen attackiert hatte
– eine andere Bezeichnung gab es dafür wirklich nicht.
Während des ganzen Urlaubs hat sie sich schon gefragt, wann sie
wieder nach Hause fahren wird; die erste Woche hat sie, mit einer
Perücke getarnt, nur gefaulenzt, eine Bootsfahrt zum Quellgebiet
des Tacana sowie eine Wanderung durch den Regenwald unternommen. Dann
hat sie immer mehr Zeit mit Lesen verbracht, und schließlich
verlegte sie sich auf lange Spaziergänge am Strand… und
jetzt schmeißt sie sich auf offener Straße an Jungs ran.
Sie fragt sich, ob sie damit an einem Tiefpunkt angelangt ist.
    Ihr geht es nur darum, zu verhindern, daß er sie beim
Abschied vielleicht haßt.
    »Darum geht es auch gar nicht«, sagt sie leise.
»Ich habe nur nach einer Erklärung gesucht, weil ich
glaubte, dir eine zu schulden. Wir sind genauso schmerzempfindlich
wie du, aber nur ein kleiner Teil unserer Gefühle dringt durch
die Schnittstellen der Nervensysteme nach draußen. Und es ist
kein Signal, das man verstärken könnte… es ist eher
wie ein verschwommenes Bild – das Licht einzuschalten hilft da
nicht viel. Nun… gut, um die Botschaft rüberzubringen,
müssen wir einfach übertreiben. Und
manchmal…«
    »Verletzt ihr euch.«
    »Ja, und dann nehmen wir diese Verhaltensweisen selbst an;
kleine Gefühle zählen nicht, weil wir dafür nicht
bezahlt werden.« Sie schlägt den Blick nieder; die
Unterhaltung entwickelt sich noch immer nicht in die Richtung, die
sie eigentlich vorgesehen hatte. »Schau, das hört sich
vielleicht auch blöd an – in der letzten Zeit kommt mir
alles dumm vor, was ich ohne Drehbuch sage. Aber bin es wirklich
überdrüssig, immer nur mich sprechen zu hören. Ich
würde mich sehr freuen, wenn du mir mal etwas von dir
erzählen würdest.«
    Er verzieht das Gesicht, beißt in den Taco – sie hat
sich schon gefragt, warum Señora

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