Die Mutter der Königin (German Edition)
uns her. Schließlich biegt sie in eine Sackgasse, an deren Ende sich eine große Tür befindet.
Ich ziehe an dem großen Eisenring neben der Tür. Ein Glockenspiel antwortet, und in einiger Entfernung schlagen Hunde an. Ein Pförtner öffnet die Türklappe. «Wer ist da?», fragt er.
Marguerite tritt heran. «Sag deinem Herrn, dass die aus Anjou gekommen ist», sagt sie.
Sofort öffnet sich die Tür, und sie bedeutet mir, ihr zu folgen. Wir betreten einen Wald, keinen Garten. Einen Tannenforst zwischen den hohen Mauern im Herzen Londons, ein geheimes Waldstück wie ein verzauberter, verwilderter Londoner Garten. Ich werfe Marguerite einen Blick zu, und sie lächelt mich an, als hätte sie schon gewusst, dass dieser Ort mich beeindrucken würde: eine geheime Welt in einer wirklichen, vielleicht sogar ein Tor zu einer anderen Welt. Wir nehmen einen gewundenen Pfad im Schatten der hohen Bäume und kommen an ein kleines Haus, das unter dunklen Tannen steht, mit harzig duftenden Zweigen auf dem Dach und Schornsteinen, die sich durch Äste strecken und die Nadeln ansengen. In der Luft liegt der Gestank einer Schmiede, der Rauch von heißen Kohlen und der vertraute, unvergessene Geruch von Schwefel. «Hier wohnt er», sage ich.
Sie nickt. «Wenn Ihr ihn seht, könnt Ihr Euch selbst ein Urteil bilden.»
Wir warten neben einer Steinbank vor dem Haus, dann öffnet sich die Tür, und in einen dunklen Mantel gehüllt kommt der Alchemist heraus und wischt sich die Hände an den Ärmeln ab. Er verbeugt sich vor der Königin und sieht mich eindringlich an.
«Ihr seid aus dem Hause Melusines?», fragt er mich.
«Jetzt bin ich Lady Rivers.»
«Ich wollte Euch schon lange kennenlernen. Ich habe Meister Forte gekannt, der für Euren Gemahl, den Herzog, gearbeitet hat. Er hat mir gesagt, dass Ihr die Gabe der Vorausschau besitzt.»
«Ich habe nie etwas gesehen, was besonders viel Sinn ergeben hätte», erkläre ich.
Er nickt. «Werdet Ihr für mich vorhersagen?»
Ich zögere. «Und wenn ich etwas sehe, was gegen das Gesetz verstößt?»
Er sieht die Königin an.
«Ich erlaube es», bestimmt sie. «Alles.»
Sein Lächeln ist freundlich. «Nur wir beide werden in den Spiegel sehen, und ich halte es geheim. Wie eine Beichte. Ich bin ein geweihter Priester, ich bin Pater Jefferies. Außer uns beiden wird niemand erfahren, was Ihr gesehen habt. Ich werde Ihrer Gnaden nur die Interpretation mitteilen.»
«Soll ich den Zauber finden, der den König heilt? Soll es ihm Gutes bringen?»
«Das ist meine Absicht. Ich bereite bereits verschiedene Wässer für ihn zu, und ich glaube, Eure Gegenwart im Augenblick der Destillation könnte viel ausmachen. Jetzt geht es ihm gut, er bleibt wach, aber ich glaube, dass er an einer tiefsitzenden Verletzung leidet. Er hat sich nie von seiner Mutter gelöst, er ist niemals wirklich zum Manne geworden. Er muss sich verändern. Er muss sich von dem Kind trennen und erwachsen werden, es geht um die Alchemie der Persönlichkeit.» Er sieht mich an. «Ihr lebt bei Hofe. Ihr kennt ihn seit vielen Jahren. Glaubt Ihr, dass das stimmt?»
Ich nicke. «Er ist ein Mann des Mondes», erkläre ich ihm widerwillig. «Kalt und feucht. Mein Lord Bedford sagte immer, er benötige Feuer.» Ich nicke zu Marguerite hinüber. «Er dachte, Ihre Gnaden würde ihm Feuer und Kraft bringen.»
Die Königin sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. «Nein», sagt sie traurig. «Er hat mich fast ausgelöscht. Er ist mir über. Mir ist kalt, ich habe meine Lebensgeister fast ganz verloren. Und ich habe niemanden mehr, der mich wärmen könnte.»
«Wenn der König kalt und nass ist, versinkt das Königreich in der Flut der Tränen», erklärt der Alchemist.
«Bitte tut es, Jacquetta», flüstert die Königin. «Wir drei schwören, niemals jemandem davon zu erzählen.»
Ich seufze. «Einverstanden.»
Pater Jefferies verbeugt sich vor der Königin. «Würdet Ihr geruhen, hier zu warten, Euer Gnaden?»
Sie wirft einen Blick auf die halb geöffnete Tür seines Hauses. Wie gerne würde sie hineinblicken. Aber sie beugt sich seinen Regeln. «Nun gut.» Sie wickelt den Umhang enger um sich und setzt sich auf die Steinbank.
Er macht mir ein Zeichen, ihm zu folgen, und ich trete über die Schwelle. In einem Zimmer zur Rechten ist eine große offene Feuerstelle, über deren Kohlenfeuer ein bauchiger Hexenkessel erwärmt wird. Im Wasserbad des Kessels befindet sich ein Gefäß mit einem silbernen Rohr, das durch
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