Die Mutter der Königin (German Edition)
kaltes Wasser geführt wird, und vom Ende des Rohrs tropft das Elixier, das aus dem Dampf gewonnen wird. Im Raum ist es heiß und stickig.
Der Alchemist führt mich in den Raum zur linken Seite, in dem ein Tisch steht mit einem großen Buch darauf – und dahinter der Spiegel zum Vorhersagen. All das ist mir so vertraut, vom süßen Duft des Elixiers bis hin zum Geruch der Schmiede draußen, dass ich einen Augenblick innehalte und mich wieder ins Hôtel de Bourbon in Paris zurückversetzt fühle, als ich ein Mädchen und schon eine Braut war, die frisch angetraute Gemahlin des Duke of Bedford.
«Seht Ihr etwas?», fragt er gespannt.
«Nur die Vergangenheit.»
Er stellt mir einen Stuhl hin und zieht den Vorhang vom Spiegel. Ich sehe mein Abbild, das so viel älter ist als das des Mädchens, dem man in Paris befohlen hatte, in das Spiegelglas zu sehen.
«Ich habe Schnupfsalze», sagt er. «Sie könnten Euch helfen, etwas zu sehen.»
Er holt einen kleinen Beutel aus einer Schublade und öffnet ihn. «Hier», sagt er.
Ich nehme den Beutel mit dem weißen Pulver, beuge mich darüber und atme vorsichtig ein. Einen Moment scheint mein Kopf zu schwirren, dann schaue ich in den Spiegel, doch mein Spiegelbild ist verschwunden. An seiner statt sehe ich ein Schneetreiben, weiße Flocken, die herabfallen wie die Blütenblätter von weißen Rosen. Dieselbe Schlacht habe ich schon einmal gesehen, die Männer kämpfen hügelan und auf einer wankenden Brücke, die einbricht, sodass sie alle ins Wasser fallen. Der Schnee färbt sich rot vom Blut, während die Blütenblätter des weißen Schnees weiter umherwirbeln. Ich sehe den stahlgrauen, weiten hohen Himmel im Norden Englands, es ist bitterkalt, und aus dem Schnee kommt ein junger Mann wie ein Löwe.
«Seht noch einmal hinein.» Ich kann seine Stimme hören, aber ich kann ihn nicht sehen. «Was wird aus dem König? Wie kann seine Verletzung geheilt werden?»
Ich sehe einen kleinen, dunklen, versteckt liegenden Raum, heiß und stickig. In seiner stillen warmen Düsternis lauert eine entsetzliche Gefahr. In den dicken Steinwänden gibt es nur eine Schießscharte, durch die ein schmaler Streifen Licht hereinfällt und den dunklen Raum erhellt. Dort sehe ich hin, angezogen von dem einzigen Lebenszeichen in all dem Dunkel. Dann verfinstert sich der Raum, als wäre ein Mann vor die Schießscharte getreten, und alles wird schwarz.
Hinter mir seufzt der Alchemist, als hätte ich ihm meine Vision zugeflüstert und er könnte alles sehen. «Gott segne ihn», sagt er leise. «Gott segne und bewahre ihn.» Dann spricht er etwas klarer. «Noch etwas?»
Ich sehe den Glücksbringer, den ich an Bändchen gebunden ins tiefe Wasser der Themse geworfen habe, eines für jede Jahreszeit, den Glücksbringer in Gestalt einer Krone, der fortgeschwemmt wurde und mir verheißen hat, dass der König nie wieder zu uns zurückkehren wird. Ich sehe ihn tief unten im Wasser an einem Faden baumeln, dann wird er hochgezogen, bis er aus dem Wasser schnellt wie ein kleiner Fisch im Sonnenschein. Und es ist meine Tochter Elizabeth, die ihn lächelnd aus dem Wasser zieht, sie lacht vor Freude und setzt ihn sich auf den Finger wie einen Ring.
«Elizabeth?», sage ich verwundert. «Mein Mädchen?»
Er reicht mir ein Glas Dünnbier. «Wer ist Elizabeth?»
«Meine Tochter. Ich weiß nicht, wie ich auf sie gekommen bin.»
«Sie hat einen Ring in Form einer Krone?»
«In meiner Vision hatte sie den Ring, der als Symbol für den König stand. Sie hat ihn sich an den Finger gesteckt.»
Er lächelt freundlich. «Das ist rätselhaft.»
«Meine Vision war nicht rätselhaft: Sie hatte den Ring – die Krone von England –, und sie hat ihn sich lächelnd an den Finger gesteckt.»
Er zieht den Vorhang über den Spiegel. «Wisst Ihr, was das zu bedeuten hat?»
«Meine Tochter wird der Krone nahestehen», sage ich. Die Vorhersage ist mir unbegreiflich. «Wie kann das sein? Sie ist mit Sir John Grey verheiratet, sie haben einen Sohn, und ein weiteres Kind ist unterwegs. Wie kann sie sich die Krone von England an den Finger stecken?»
«Mir ist es auch nicht deutlich», sagt er. «Ich werde darüber nachdenken und Euch vielleicht bitten wiederzukommen.»
«Warum sollte Elizabeth einen Ring tragen, der geschmiedet ist wie eine Krone?»
«Manchmal sind unsere Visionen dunkel. Wir wissen nicht, was wir sehen. Diese ist sehr unklar. Sie ist rätselhaft. Ich werde mich im Gebet damit beschäftigen.»
Ich nicke.
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