Die Mutter der Königin (German Edition)
Wenn ein Mann ein Mysterium braucht, ist es im Allgemeinen besser, es nicht für ihn zu lösen. Wer mag schon kluge Frauen?
«Würdet Ihr hier herüberkommen und diese Flüssigkeit in die Form gießen?», bittet er mich.
Ich folge ihm in den ersten Raum, und er nimmt eine Flasche vom Regal, schüttelt sie vorsichtig und reicht sie mir. «Bitte haltet sie.» Ich umschließe das Glas mit der Hand, und sofort wird es warm.
«Nun gießt es aus», sagt er und deutet auf die Formen, die auf dem Tisch stehen.
Vorsichtig fülle ich sie mit der silbrigen Flüssigkeit und gebe ihm die Flasche zurück.
«Einige Vorgänge müssen von weiblicher Hand ausgeführt werden», erklärt er leise. «Einige der größten alchemistischen Erfolge wurden erst dadurch erreicht, dass Gemahl und Gemahlin zusammengearbeitet haben.» Er deutet auf die Schüssel mit warmem Wasser über dem Kohlenfeuer. «Dieses Verfahren wurde von einer Frau erfunden und nach ihr benannt.»
«Ich besitze keinerlei Fähigkeiten», sage ich, meine Begabungen verleugnend. «Und wenn ich Visionen habe, werden sie mir von Gott gesandt und bleiben mir unklar.»
Er hakt mich unter und führt mich zur Tür. «Ich verstehe. Ich werde nur nach Euch schicken, wenn ich ohne Eure Hilfe nicht für die Königin arbeiten kann. Ihr tut recht daran, Euer Licht unter den Scheffel zu stellen. In dieser Welt werden begabte Frauen nicht verstanden. Wir müssen in aller Stille arbeiten, selbst jetzt, wo das Königreich so dringend auf unsere Führung angewiesen ist.»
«Der König wird nicht genesen», sage ich plötzlich, als wollte die Wahrheit sich gewaltsam Bahn brechen.
«Nein», stimmt er mir traurig zu. «Aber wir müssen tun, was wir können.»
«Und die Vision von ihm im Tower …»
«Ja?»
«Ich habe ihn gesehen, doch auf einmal stand jemand vor dem Fenster, und es wurde ganz dunkel …»
«Ihr meint, er wird seinen Tod im Tower finden?»
«Nicht nur er.» Plötzlich bedeutet es mir sehr viel. «Ich weiß nicht, warum, aber es ist, als sei eines meiner eigenen Kinder dort. Einer meiner Söhne, vielleicht sogar zwei. Ich kann es sehen, aber ich bin nicht da, ich kann es nicht verhindern. Ich kann weder den König retten noch die Kinder. Sie werden in den Tower hineingehen und nie wieder herauskommen.»
Freundlich nimmt er meine Hand. «Wir können unser Schicksal bestimmen», sagt er. «Ihr könnt Eure Kinder schützen, vielleicht können wir auch dem König helfen. Geht mit Euren Visionen in die Kirche und betet, so wie auch ich um Erleuchtung bitten werde. Wollt Ihr der Königin sagen, was Ihr gesehen habt?»
«Nein», antworte ich. «Für eine junge Frau hat sie schon genug Sorgen. Und außerdem weiß ich gar nichts mit Gewissheit.»
«Was habt Ihr gesehen?», will Marguerite wissen, als wir nach Hause gehen, unerkannt unter unseren Umhängen in den belebten, dunklen Straßen. Wir haben uns untergehakt, falls wir angerempelt werden, und Marguerite hat ihr helles Haar unter der Kapuze versteckt. «Er wollte mir überhaupt nichts verraten.»
«Ich hatte drei Visionen. Keine war besonders hilfreich», antworte ich.
«Was für welche?»
«Eine von einer Schlacht, hügelan im Schnee, mit einer Brücke, die einbrach und von der die Soldaten in den Fluss fielen.»
«Glaubt Ihr, es kommt zu einer Schlacht?», möchte sie wissen.
«Glaubt Ihr das nicht?», versetze ich trocken.
Sie nickt ob meines gesunden Menschenverstands. «Ich will eine Schlacht», erklärt sie. «Ich habe keine Angst davor. Ich habe vor nichts Angst. Und die andere Vision?»
«Von einem kleinen Raum im Tower, in dem das Licht erlosch.»
Sie zögert einen Moment. «Im Tower gibt es viele kleine Räume, und vielen jungen Männern wird Licht verwehrt.»
Eine kalte Hand legt sich in meinen Nacken. Ich frage mich, ob eines meiner Kinder je im Tower untergebracht sein und eines Tages mit ansehen wird, wie ein großer Mann vor eine Schießscharte tritt und das Licht aussperrt. «Mehr habe ich nicht gesehen», sage ich.
«Aber Eure letzte Vision? Ihr sagtet, es seien drei gewesen.»
«Ein Ring in Form einer Krone, der die Krone Englands symbolisierte und aus tiefem Wasser herausgezogen wurde.»
«Von wem?», fragt sie mit Nachdruck. «Von mir?»
Nur sehr selten lüge ich Marguerite d’Anjou an. Ich liebe sie, und außerdem habe ich ihr und ihrem Haus Gefolgschaft geschworen. Aber ich werde ihr nicht den Namen meiner schönen Tochter verraten, den Namen des Mädchens, das die Krone von
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