Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
brennender Schafe und Tauben hochstieg. Im Gegensatz zu dem lärmenden Treiben der ihn umgebenden Anlage waren der Tempel und seine von Mauern umgebenen Höfe ausschließlich Kult und Opferdienst gewidmet – und ausschließlich den Gläubigen vorbehalten. Nicht-Juden war der Zutritt ausdrücklich und unter Androhung der Todesstrafe untersagt. Selbst Herodes hätte einen Aufstand riskiert, wenn er darauf bestanden hätte, den Tempel zu betreten. Denn obwohl er offiziell zum Judaismus übergetreten war, als er an die Macht kam, betrachtete ihn der Großteil der ansässigen Bevölkerung immer noch als Araber.
Der Tempel war die größte überschwängliche Geste von sämtlichen überschwänglichen Gesten des Herodes. Doch während er öffentlich mit dem Haus prahlte, das er zu Ehren Gottes erbaut hatte, war ihm insgeheim das Haus am liebsten, das er zu seinen Ehren erbaut hatte: sein Palast in der oberen Stadt.
Herodes besaß in ganz Judäa Paläste. In Caesarea in der Nähe der Mittelmeerküste und in Tiberias am See Genezareth. In Masada und Jericho. Jeder einzelne wunderschön und prächtig. Doch obwohl ein paar dieser Paläste größer waren als sein Heim in Jerusalem, reichte doch keiner an dessen Herrlichkeit heran. Wie der Große Tempel war er auf einer erhöhten Plattform erbaut, einem Rechteck, das beinahe dreihundert Meter lang und sechzig Meter breit und von hohen Mauern und Wachttürmen umgeben war. Offiziell diente der Palast als Festung zum Schutz der oberen Stadt an der Westseite Jerusalems vor einfallenden Streitmächten. In Wirklichkeit war es das Geschenk eines mächtigen Königs an sich selbst. Die Türme standen jeweils im gleichen Abstand an den vier Mauern. Jeder hatte einen Namen. Einer war nach dem Bruder des Königs benannt, einer nach einem Freund, und einer nach seiner geliebten zweiten Gemahlin Mariamne.
Mariamne … oh, welch eine Schönheit sie gewesen war! Oh, wie Herodes sie geliebt hatte! Und oh, wie schade, dass er gezwungen gewesen war, sie hinrichten zu lassen! Und den Mann, der unter dem Verdacht stand, eine Affäre mit ihr gehabt zu haben. Und ihren Bruder. Und die beiden Söhne, die sie ihm geboren hatte, damit sie nicht heranwuchsen und es ihrem Vater übel nahmen, dass er ihre Mutter hingerichtet hatte. Wohlgemerkt hatte es Herodes kein Vergnügen bereitet. Die eigenen Kinder zum Tode zu verurteilen war eine der weniger appetitlichen Pflichten eines Königs. Doch wie Herodes seinen übrig gebliebenen Söhnen gern sagte: »Gefühle sind Gefühle, und Politik ist Politik, und das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«
Jetzt war von der Lieblingsgemahlin des Herodes nur noch ein nach ihr benannter Wachtturm über dem Nordtor übrig. Durch eben dieses Tor wurde Balthasar unsanft zum ersten und letzten Mal in seinem Leben geführt. Rückwärts. Über und über besudelt mit seinem eigenen Blut und Erbrochenen.
Dreiunddreißig Jahre später würde ein anderer Mann durch eben dieses Tor geführt werden, weil er vor einen anderen Herodes gebracht werden sollte – ebenfalls mit seinem eigenen Blut besudelt und ebenfalls auf dem Weg zu seinem Tod.
Sobald sich Hauptmann Petrus und seine Männer im Innern der Palastmauern befanden, wurde Balthasar endlich von seinem Begleiter losgebunden und auf den Boden gehoben. Ihm war immer noch etwas schwindlig, und er war sehr durstig. Es dauerte einen Moment, bis er sein Gleichgewicht wiederfand, zumal ihm die Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren.
Als Balthasar nicht mehr schwankte, wandte er sich vom Nordtor ab … und befand sich unvermittelt in einer anderen Welt. Einer Welt, die beinahe so wundersam und unendlich war wie diejenige, durch die er in seinen Träumen geflogen war. Es war eine Welt aus saftigem Grün und kühlem Marmor. Eine Welt aus polierten Bronzebrunnen und peinlich genau gestriegelten Hunden. Es war ganz einfach das Paradies auf Erden. Der Garten Eden, endlich wiedergefunden.
Innerhalb der rechteckigen Außenmauern war die Anlage in der Mitte in zwei kleinere, völlig symmetrische Rechtecke unterteilt – wobei jede Hälfte die andere bis in die kleinste Einzelheit widerspiegelte. Und während Außenstehende wie Balthasar wahrscheinlich dachten, der Palast des Herodes hinter jenen Mauern sei ein einziges Bauwerk, erstreckten sich im Innern tatsächlich zwei identische Paläste, die sich, durch einen gewaltigen rechteckigen Hof getrennt, gegenüberstanden.
Zu beiden Seiten des Hofes boten überdachte Gänge
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