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Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Titel: Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seth Grahame-Smith
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lebendig zu fangen.
    Und dieser Befehl kam von einer viel höheren Macht als einem römischen Statthalter.

»Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem. Er ließ alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und erkundigte sich bei ihnen, wo der Messias geboren werden solle. Sie antworteten ihm: ›In Bethlehem in Judäa; denn so steht es bei dem Propheten.‹«
    – Matthäus 2,3–5

Die Seele, die sich einst »Balthasar« genannt hatte, schwamm durch einen endlosen Ozean, einen Ozean aus Raum und Zeit, in dem alles, was je gewesen war, und alles, was je sein würde, zusammenfloss. Als Balthasar zu der unendlichen glänzenden Wasseroberfläche emporblickte, sah er, dass sich dort die gesamte Schöpfung widerspiegelte, jede Einzelheit des Universums – von den Sternen am Himmelszelt bis hin zu den kleinsten Insekten auf der Erde. Er sah jeden Moment seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Doch beim Schwimmen verursachten seine Bewegungen kleine Wellen in diesen Spiegelbildern und verzerrten sie zu sich stets ändernden Andeutungen der Wahrheit: Hier war wieder der Mann, der ein Tier durch die Wüste führte … und die Frau auf dem Rücken des Tieres. Hier waren der ferne Stern am Himmel und die geheimnisvollen Bäume. Hier war das Gesicht aus seiner Vergangenheit …
    Und je schneller Balthasar schwamm, desto weiter drang er in die Zukunft vor. Je heftiger die Wellen schlugen, desto schlechter waren jene Spiegelbilder zu erkennen: Hier waren ein Heer aus fremden Soldaten und ein Holzbalken, der entzwei brach. Hier waren eine große Stadt in Flammen und sein Bruder, Abdi, als erwachsener Mann. Jedenfalls sah es so aus.
    Auf einmal merkte Balthasar, dass er gar nicht mehr schwamm. Er flog – schwebte über der Erde, als werde er von einem Paar ausgebreiteter Flügel getragen. Die glänzende Oberfläche, zu der er hochgeblickt hatte, befand sich jetzt meilenweit unter ihm, und die gesamte Judäische Wüste – nein, ganz Judäa – erstreckte sich, so weit das Auge reichte, in alle Richtungen. Tiefe Schluchten waren mit einem Mal nichts weiter als kleine Zickzacklinien im Sand. Hoch aufragende Berge waren nicht größer als eine Fingerspitze. Unter sich sah er Vogelschwärme, die im Verband über den Wassern des Jordan dahinflogen. Er erblickte die obere Seite von Wolken und die Schatten, die sie auf den Wüstenboden warfen.
    Balthasar hatte noch nie zuvor einen solchen Frieden verspürt. Solche Freiheit.
    Ich fliege tiefer …
    Die Oberseiten der Wolken kamen näher. Beinahe so nahe, dass er mit den ausgestreckten Füßen darüberstreichen konnte. Näher … bis die Vögel sich über ihm befanden, und Balthasar in den dichten Nebel der Wolken selbst eintauchte. Und als er unten durch die Wolkendecke brach, war die Wüste viel näher als zuvor. So nahe, dass das verstreut wachsende Grün zu erkennen war, das es geschafft hatte, sich durch den Fels zu schieben … und nahe genug, dass er die winzige Prozession judäischer Reiterei unter sich sehen konnte.
    Nein …
    Der siegreiche Hauptmann und seine hundert Männer, die mit ihrem bewusstlosen Gefangenen im Schlepptau von Bethel nach Jerusalem zogen.
    Nein, nicht dorthin!
    Balthasar spürte, wie er aus jener herrlichen Welt gezogen wurde, konnte spüren, wie die Erinnerung an sein früheres Ich zurückgeschossen kam. Und er sah, wie der Gefangene allmählich wieder zu Bewusstsein kam …
    Nein … nein, ich will nicht Platz mit ihm tauschen! Ich will hier oben bleiben! Ich will hierbl…
    Würgend erwachte Balthasar. Seine Bauchmuskeln zogen sich gegen seinen Willen zusammen, und sein Mageninhalt stieg ihm in die Kehle. Sein Instinkt verriet ihm, dass er sich die Hände vor den Mund halten sollte, doch seine Hände verrieten ihm, dass sie immer noch auf seinem Rücken gefesselt waren. Er überlegte, den Übelkeitsanfall zu unterdrücken – überlegte, ihn niederzukämpfen und seinen Muskeln zu befehlen, dass sie gehorchen sollten. Doch es war zu spät. Sein Körper hatte das Kommando. Er war jetzt nur noch Zuschauer. Folglich ergoss sich der armselige Inhalt seines Magens über sein Kinn, über seine Brust und auf den Schweif des Pferdes unter ihm. Des Pferdes, auf dem er rückwärts ritt.
    Darauf folgten umgehend schallendes Lachen und pöbelhafte Zurufe von allen Seiten. Und auch wenn Balthasar die Männer nicht sehen konnte, die lachten und ihm Beleidigungen an den Kopf warfen, da seine Augen erst halb offen waren

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