Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
dauern. Ich muss etwas falsch machen. Und es hatte Momente – viele Momente – im Laufe der Nacht gegeben, in denen Josef beinahe hineingestürmt wäre. Doch das konnte er nicht. Es war verboten. Er durfte sie nicht in diesem unschicklichen Zustand zu Gesicht bekommen. Er durfte sie nicht anfassen, solange sie unrein war. Folglich hatte er das Einzige getan, was er tun konnte – er hatte ihr durch die Stallwände hindurch aufmunternde Worte zugerufen und gebetet.
Zuerst schrie der Säugling und verkündete auf diese Weise, dass er gesund war. Ein Schrei, der durch ganz Bethlehem hallte. Eine Stimme, die noch in der ganzen Welt gehört werden soll , dachte Maria, als sie sich das Baby an die Brust legte. Und dann war das Baby still. Ruhig. Es sah einen Moment lang in Marias Augen. Nicht der allwissende Blick eines allwissenden Gottes, sondern lediglich der fragende Blick eines erschöpften Säuglings. Dann schlief er ein.
Maria und Josef lagen nebeneinander und sahen dem Baby beim Schlafen zu, als die Sonne durch die Latten in den Stallwänden spähte und die Tiere um sie herum sich allmählich regten.
Es war Tradition, dass der Name eines Jungen bis zu seinem achten Tag nicht laut ausgesprochen werden durfte. Dem Tag seiner Beschneidung. Doch es musste auch nichts ausgesprochen werden.
Der Engel hatte ihnen beiden gesagt, wie sie das Kind nennen sollten.
Die Tür zum Thronsaal des Herodes ging endlich auf, und man führte Balthasar hinein, damit er seine Strafe empfangen konnte. Hauptmann Petrus schritt stolz vornweg.
Der Thronsaal war genauso symmetrisch und rechteckig wie der Rest der Palastanlage, mit der Tür auf der einen Seite und dem Thron auf der anderen, sodass Gäste um der dramatischen Wirkung willen so weit wie möglich zu laufen hatten. Doch im Gegensatz zu dem üppigen Paradies, das Balthasar draußen gesehen hatte, fand er das Innere im Vergleich kalt und trist. Steinpfeiler säumten beide Seiten des schmalen Ganges. Tageslicht drang durch die Fenster hinter jenen Pfeilern und durch die gewaltige quadratische Öffnung mitten in der etwa zwölf Meter hohen Decke. Abends würden die Fackeln und Lampen an den Längsseiten des Saales für reichlich Licht und Wärme sorgen, auch wenn Balthasar davon ausging, dass Herodes nach Einbruch der Dunkelheit nicht viel Zeit hier verbrachte. Warum sollte er auch, wenn auf der anderen Seite des Innenhofes ein ganzer Vergnügungspalast auf ihn wartet?
Auf dem Weg zum Thron sah Balthasar, wie rechts davon Sklaven eilig einen umgeworfenen Tisch und die heruntergefallenen Becher und Servierplatten wegräumten. Und während er sich insgeheim dazu gratulierte, die Quelle des Lärms richtig erraten zu haben, wanderte sein Blick zurück zum Thron selbst sowie zu der Gestalt, die zusammengesackt darauf saß.
Balthasar hatte im Laufe seiner sechsundzwanzig Jahre schon viel Schauderhaftes gesehen. Doch nichts , was er gesehen hatte, bereitete ihn auf den Anblick von Herodes dem Großen vor.
Es wurde gemunkelt, dass der König seit Jahren krank war. Er wagte sich nicht mehr unters Volk, weder um seine Bauprojekte zu beaufsichtigen noch um sich in ihrem Ruhm zu sonnen. Selbst die luxuriöse Privatloge in seinem geliebten Theater stand seit Jahren leer. Manche spekulierten, dass er tot war. Dass seine Söhne sich heimlich die Macht teilten und den gefürchteten Namen ihres Vaters zu ihrem Vorteil einsetzten. Doch Herodes lebte … wenn man es denn so nennen konnte.
Er war vornübergebeugt, seine Wirbelsäule verkrümmt. Seine Augen waren gelblich, seine Zähne schwarz, seine bleiche Haut von offenen Wunden übersät. Seine eingefallenen Wangen wirkten kaum stark genug, das Gewicht seines strähnigen, grauen Bartes zu halten, und seine Gewänder hingen an ihm herunter wie Laken an einer Wäscheleine.
Das hier war der mächtige Herodes? Dieses verkümmerte kleine Männchen? Dieses schmächtige Etwas? Das hier war der König von Judäa? Er sah weniger wie der Mann aus, der Jerusalem wieder aufgebaut hatte, sondern eher wie einer der blinden Leprakranken, die auf den Straßen der Stadt bettelten. Sein Thron hingegen war prächtig, der Sitz aus weißem Marmor mit goldenen Verzierungen. Doch obwohl der Thron eigentlich Ehrfurcht erwecken sollte, diente er nur dazu, den winzigen Mann, der darauf saß, noch ein Stück kleiner wirken zu lassen.
Petrus trat vor, seinen Hauptmannshelm unter dem Arm. Er nahm Haltung an und wandte sich – genau wie er es auf dem Weg von Bethel
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