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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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seinen hässlichen Nachkriegsbauten ein einziges Abziehbild für dieses kleine schäbige Land, das sich so viel auf seinen Antifaschismus eingebildet hatte und dabei doch nur neue Duckmäuser produzierte. Gerade die Lehrer.
    In dieser Kuppelhalle hatten die Helden der Volksbildung ihre berüchtigten pädagogischen Kongresse gefeiert, Auszeichnungen entgegengenommen und sich von Margot Honecker aufhetzen lassen. Den Früchten ihrer Arbeit konnte man heute an jeder ostdeutschen Tankstelle begegnen. Und wie zur Strafe dafür fanden hier neuerdings auch regelmäßig Pornomessen statt.
    Ein paar ehemalige Jungpioniere, die später ihre FDJ-Hemden schnell gegen Bomberjacken getauscht hatten, waren auch an diesem Morgen da. Abgeschirmt von Polizisten standen sie vor dem Haupteingang einer Übermacht aus linken Gegendemonstranten gegenüber. Und ihre kläglichen Sprechgesänge von »Ruhm und Ehre« hatten kaum eine Chance gegen die Trillerpfeifen aus Kreuzberg und Friedrichshain.
    Vor ein paar Tagen noch hätte ich sicher meine Freude daran gehabt und allein die Demo-Poeten als Kronzeugen für die geistige Kluft zwischen beiden Lagern gelobt. »Ohne Verfassungsschutz seid ihr nur zu dritt«, sangen zum Beispiel die Guten in Anspielung auf das peinlich gescheiterte NPD-Verbot. Leider ließen sie auch den Klassiker nicht aus, als immer mehr Beamte aufliefen: »Deutsche Polizisten schützen Faschisten.« Sie hatten ja keine Ahnung!
    Mit der Tochter eines Massenmörders an der Hand schlich ich zum Hintereingang, traute mich kaum aufzusehen und war außerdem ziemlich genervt, weil Elisabeth von Jagemann ständig stehen blieb. Es war nicht etwa die Puste, die ihr fehlte, sondern jedes Mal derselbe kleine Spiegel, den sie aus ihrer Handtasche kramte. Sie zupfte sich darin ihre Haarspitzen zurecht, kaute die ganze Zeit auf ihren Lippen wie ein junges Mädchen vor dem ersten Date und lächelte verlegen, wenn ich sie dabei ertappte. Keinen Gedanken verschwendete sie daran, er könnte sich etwas angetan haben. So etwas tut ein von Jagemann nicht - da war sie sich sicher.
    Niemand von uns wusste, was sich nach seinen letzten Zeilen tatsächlich abgespielt hatte. Warum hatte dieser Kurt die Pistole gebracht? Hatte er Fritz vorher rausgeschmissen? Erschossen? Ihm nur seinen letzten Wünsch erfüllt? Oder alles in einem?
    Wir waren Hals über Kopf aufgebrochen. Du hattest dir eingebildet, mit der Kamera sei auch der Haupteingang kein Problem. Ich wollte es mit der alten Jagemann von hinten probieren. Wahrscheinlich dachte sogar jeder von uns an sein eigenes Happyend bei diesem seltsamen Familientreffen - Liesbeth an Fritz, du natürlich nur an deine Bilder und ich vor allem daran, dass Wolf damit nicht durchkommen durfte.
    Am Hintereingang zückte ich beiläufig meinen Dienstausweis - und prallte gegen eine Wand aus Muskeln. Fünf Bodybuilder in schwarzen Bomberjacken standen uns im Weg, Schulter an Schulter, die Reihen fest geschlossen. Alle trugen das gleiche Emblem auf der Brust und den Stolz resozialisierter Schläger vor sich her. Jede zweite Visage kam mir aus der SoRex-Datei bekannt und sie grinsten alle, als wüssten auch sie genau, was man mit einer wie mir eigentlich machen müsste. Die Veranstalter hatten genau die richtigen Figuren für ihren Kongress engagiert. Als Ordner konnten sie heutzutage ihre KZ-Aufseher-Mentalität ausleben oder spielten an Disko-Türen Selektion, und während einer in sein Walkie-Talkie sprach, bildete ich mir sogar ein, er würde Frau von Jagemann anhimmeln - sicher nicht wegen ihrer Figur. Am allermeisten schockierte mich jedoch die Fehlfunktion meiner kleinen Zauberkarte. Wie ein Bewegungsmelder öffnete sie normalerweise alle Türen. Viel zu schnell hatte ich mich auch daran gewöhnt.
    »Können Sie nicht lesen«, fragte ich und bereute es sofort, denn das konnte ja wirklich sein bei diesen dicken Ärmeln.
    Der Analphabet mit dem Funkgerät aber lächelte nur den kläglichen Rest meiner Autorität in Grund und Boden. »Tut mir leid, Frau Thorwart«, sagte er freundlich, »aber wir haben Anweisung, Sie und die gnädige Frau nicht hereinzulassen.«
    Sie mussten gar nicht lesen können. Vielmehr hatten sie offenbar mit uns gerechnet und natürlich »Anweisungen«, auf die sie sich jederzeit berufen konnten. Dann winkten sie einem Sanitäter, der hinter seinem Wagen lauerte.
    »Was soll das«, protestierte ich, »wer sagt das?«
    »Moment, bitte!« Der Wortführer drehte sich etwas zur Seite und

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