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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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fragt er, nur daß wir was draus gemacht haben: Obdachlose und eine Jugend, die nichts mit sich anzufangen weiß - das sei doch unvorstellbar gewesen bei uns. Aber heute werde das ja alles pauschal verteufelt, sogar die Partei und ihre Jugendorganisationen - als wären Millionen dazu gezwungen worden.
    Der Mann spricht die Wahrheit, denke ich, und doch blitzen auch immer wieder die Bilder in meinem Kopf auf, mit denen mich Monse bombardiert hat. Dieses schleichende Gift der Zersetzung.
    Was mit dem Zusammenbruch sei, frage ich zaghaft, den vielen Opfern im Osten? Ob er wohl glaube, da sei was dran?
    Ungläubig starrt er mich an. Ich bräuchte mich doch nur mal umzusehen: Alle hätten ihre Arbeit verloren, viele ihre Wohnung...
    Ich hätte, so unterbreche ich ihn, eher die gemeint, die ihr Leben verloren haben, die Gefolterten, Deportierten ...
    Ach was! Geradezu entrüstet bäumt er sich auf: Ich solle mir nichts erzählen lassen! Eher sei man noch viel zu nachsichtig mit den inneren Feinden umgegangen. Das könne ich ihm glauben, er wisse, wovon er redet. Und das Ergebnis hätten wir ja nun!
    Fast erleichtert bücke ich mich nach meiner Mütze, die mir während meines Nickerchens hinter die Bank gefallen sein muß, setze sie auf und prüfe mit der Handkante den korrekten Sitz der Totenkopf-Kokarde, genau wie es die Vorschrift verlangt.
    Der fremde Volksgenosse aber reißt entsetzt die Augen auf, bevor sie sich zu Schlitzen verengen.
    Also wirklich, keucht er dann, einem alten Antifaschisten so einen Schreck einzujagen! Das hätte ich auch gleich sagen können, daß ich auch mit der Ausstellung drüben zu tun hätte. Ob wir etwa immer noch nicht mit dem Aufbau fertig seien, will er wissen, und was der Schabernack mit der Uniform soll?
    Ich verstehe ihn nicht mehr und lächele entschuldigend.
    Na hör mal, sagt er vorwurfsvoll und duzt mich auf einmal, mit einem Exponat in der Öffentlichkeit herumzulaufen, noch dazu mit so einem. Ich solle mich bloß nicht erwischen lassen! Er selbst sei dort Nachtwächter, sagt er und schaut auf seine Armbanduhr. Aber ich hätte Glück, lacht er dann, seine Schicht beginne erst in einer halben Stunde. Er sei nur noch mal schnell mit dem Hund draußen gewesen. Wenn ich also kurz hier warten würde, käme er gleich mit rüber ins KZ.
    Wohin?
    Na ins Kongeßzentrum, sagt er, unser altes Haus des Lehrers. Und ich solle endlich aufhören, ihn auf den Arm zu nehmen.
    Er eilt davon, aber ich bin sicher: Das Schicksal hat mir diesen Mann geschickt. Mit seiner Hilfe, sagt mir mein Gefühl, werde ich noch heute Nacht Gewißheit haben. Und wenn sie noch so niederschmetternd ist, wie ich indessen fürchte: Ich bin bereit.
    Nach einer Viertelstunde ist er zurück, trägt nun eine schmucklose blaue Uniform und ein Barett auf dem Kopf. Kurt, sagt er und reicht mir seine Hand, an der ein Einkaufsbeutel baumelt. Während wir den Platz überqueren, nenne ich meinen Namen, und er findet es eine Schande, daß wir in unserem Alter immer noch arbeiten müßten. Dieses verdammte Rentenstrafrecht, schimpft er, diese Arroganz der Besatzer ...
    Beim Ministerium sei er gewesen, sagt er dann und flüstert dabei fast, über 30 Jahre. Nur bei welchem verrät er nicht. Und du, Fritz, fragt er stattdessen, auch bewaffnete Organe?
    Unsicher deute ich ein Nicken an. Er lächelt verständnisvoll.
    Am Eingang begrüßt er einen Kollegen, der ihm eine Taschenlampe und einen Schlüsselbund übergibt. Kurt wünscht einen schönen Feierabend, und ich folge ihm widerstandslos hinein. Ein paar Arbeiter tragen Stühle in einen großen Saal.
    Auf der Bühne wird noch gehämmert. Vom Foyer aus kann ich sehen, wie zwei Mann einen Konzertflügel zur Seite schieben, und bleibe verzaubert stehen.
    Was denn mit mir los sei, fragt Kurt - ob ich nichts zu tun hätte. Er müsse erstmal seine Runde machen, später sehe man sich bestimmt noch. So läßt er mich einfach stehen, und ängstlich wie ein Kind in fremder Umgebung folge ich ihm noch ein paar Meter durch die hohen Räume. In einem entdecke ich mehrere Kameraden, die vor großformatigen Bildern Wache halten. Ich rufe, aber sie rühren sich nicht, eile näher und stelle fest: Es sind nur Konfektionspuppen in Uniformen, die sich auch auf den jeweiligen Fotos wiederfinden. Dort haben sie Gesichter, erschießen Menschen oder pferchen zu Skeletten abgemagerte Häftlinge zusammen. Auf Texttafeln ist wieder von Völkermord die Rede, von Kriegsgefangenen und Zivilisten, zu tausenden

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