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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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erschossen oder erschlagen, erhängt und verbrannt. Es hört nicht auf und ist auf diesen übergroßen Fotos noch schwerer zu ertragen als in Monses Büchern. Benommen treibe ich von Bild zu Bild. Immer das Gleiche: Exekutionen, Lager und deutsche Soldaten. Die SS ist diesmal nicht allein am Werk, aber das macht es kaum besser.
    Ich muss mich setzen und greife zu Kopfhörern, die auf einer Bank in der Mitte des Raumes bereitliegen. Hohe Parteigenossen hört man dort reden, auch Generäle und Industrielle sind dabei, lauter bekannte Namen. Nur was und wie sie es sagen, ist neu: Sie jammern über Befehl und Gehorsam, sprechen ständig von einer kleinen Clique, Hitler einsam vorneweg, und tun gerade so, als wären sie allesamt von ihm gezwungen worden. Ohne die schrecklichen Bilder ringsum hätte ich beinahe laut gelacht: Nichts gegen den Führer, seinen Anteil als Visionär und Feldherr - aber selbst er hätte das allein nie geschafft. Wir sind doch nicht wenige gewesen - wir waren doch das Volk! Beifall und Begeisterung, an etwas anderes kann ich mich nicht erinnern. Du etwa, Liesbeth?
    Ab und zu kommen auch einfache Soldaten zu Wort. Sie sind etwas ehrlicher, aber fühlen sich auf einmal auch alle vom Führer um Jahre ihrer Jugend betrogen. Jahre? Jugend? Was soll ich denn da sagen? Niemand hat behauptet, es würde einfach. Auch darauf hat er uns doch vorbereitet: Daß es ein hundertjähriger Kampf würde. Daß es zum Äußersten käme ... Und genau wie damals ist auf den Aufnahmen für meinen Geschmack viel zu viel von den Juden die Rede.
    Schon als Kind fand ich dieses Problem irgendwie überbewertet. Dem alten Herrn Maus, zum Beispiel, nahm ich lediglich übel, daß ich plötzlich nicht mehr zu ihm durfte und der neue Klavierlehrer viel strenger war. Aber sonst? Wann immer wir auf der Straße versuchten, Juden am Gang oder ihren Gesichtern zu erkennen, wie wir es gerade in der Schule gelernt hatten, lag ich daneben. Ich hatte kein gutes Auge für Untermenschen und schon deshalb stets die Hoffnung, das Thema sei irgendwann erledigt. So kann man sich täuschen.
    Als lebe eine Horde Menschenfresser unter uns, so hören sich die Landsleute in diesem Zusammenhang immer noch an - und nur ganz langsam begreife ich, daß sie sich selbst damit meinen. Uns. Uns alle! Plötzlich sind wir die Kindermörder, ein Volk von Unmenschen, die Millionen andere getötet haben. Und alle tun dabei so, als seien sie über Nacht verrückt geworden, blind und taub, und hätten es nicht mal bemerkt. Es scheint sogar ansteckend zu sein, denn auf einmal frage ich mich selbst: Wir haben es doch gewusst, oder etwa nicht? Dieser Ort ist judenfrei - so stand es doch auch bei uns am Ortseingang. Es war kein Geheimnis, eher selbstverständlich. Man hat es fast nicht mehr gesehen. Und natürlich, das gebe ich zu, wollte ich auch nie genauer wissen, was aus Eddie geworden war oder dem alten Herrn Maus.
    Es ist zu viel für mich, Liesbeth, die Bilder, die Zahlen, diese Heuchler! Bis gestern habe ich noch an den Endsieg geglaubt und jeden Zweifel tapfer niedergerungen. Nun soll aus Ehre plötzlich Schande geworden sein - und aus Schande Ehre? Aus Deserteuren haben die Jahre Helden gemacht, aus Männern wie Vater Lumpen - blutrünstige Mörder, das waren Monses Worte.
    Schnell wische ich mir mit dem Ärmel über mein Gesicht, als mir jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legt.
    Ich müsse mich nicht schämen, sagt Kurt, das ginge jedem so. Man bräuchte eine Weile, bis man das verdaut, manche ein Leben.
    Aus seinem Beutel holt er eine Thermoskanne und wickelt belegte Brote aus. Salami, sagt er und drückt mir eins davon in die Hand. Seine Frau mache sowieso immer zu viel, das sei wohl noch von damals so drin, als ihre Mutter nicht da war, und seine Frau ihre kleinen Geschwister allein durchbringen mußte.
    Ich bedanke mich stumm und schaue ihn ratlos an.
    Ravensbrück, sagt er dann, zweieinhalb Jahre Hunger und Sklavenarbeit. Im Winter habe die SS seine Schwiegermutter mit einem Wasserschlauch abgespritzt und danach Stunden im Frost stehen lassen. Alles nur für ihren Glauben. Nur weil sie zum Beispiel den deutschen Gruß nicht machen wollte und ihr die Schläge der SS nichts bedeuteten gegen die einzig göttliche Wahrheit. Kurt schüttelt den Kopf: Dabei hätte sie einfach nur abschwören müssen. Aber nein: Niemand ist heilig außer ihm!
    Ich möchte etwas sagen, doch die wenigen Brotkrumen in meinem Mund bilden einen Kloß, und ich frage mich,

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