Die Nachhut
ob er das mit Absicht macht. Immer wieder die SS! Bin ich ihm noch nicht klein genug? Merkt er nicht, was mit mir los ist - oder weiß er es genau?
Dann redet er wieder voller Respekt von seiner Schwiegermutter: Sie sei vielleicht unvernünftig gewesen - aber mutiger als die meisten Männer, selbst unter den Zeugen Jehovas.
Die Mörickes, erinnerst Du Dich? Das waren auch solche - Vater nannte sie immer Bibelwürmer. Eigentlich hilfsbereit und bescheiden, die ganze Familie. Wogegen sie genau waren, konnte niemand sagen. Allein ihr religiöser Starrsinn war keinem geheuer. Sie waren Nachbarn - aber nie unser Fall, und so grämte sich auch niemand im Ort, als sie plötzlich verschwunden waren. Ein Umzug, hieß es, oder? So hieß es doch wirklich!
Ob es mir nicht schmecke, fragt Kurt.
Nein, doch. Keinen Bissen bekomme ich in Wahrheit herunter.
Nach einer langen Pause sagt er, daß es für ihn selbst nach 45 auch nicht einfach gewesen wäre. Er sei immerhin PG gewesen, wenn auch nur - damit ich das richtig verstünde - um das mit der unzuverlässigen Familie seiner Braut auszugleichen, um sie zu schützen, das müsse ich ihm bitte glauben! Selbst seine Schwiegermutter habe ihm daraus nie einen Vorwurf gemacht, sie habe es - er zögert - jedenfalls nie ausgesprochen. Wenn sie wenigstens Kommunistin gewesen wäre, irgendein, wie er es nennt, anerkanntes Opfer des Faschismus! Aber die Zeugen wären in der DDR ja genau so verboten gewesen, und so sei er am Anfang nicht nur in die SED eingetreten, um seine NSDAP-Mitgliedschaft zu sühnen, sondern letztlich wieder aus Liebe, um seine Frau zu schützen ... Erst später habe er dann auch selbst an die gute Sache geglaubt.
An Gott, frage ich und habe doch eigentlich keine Lust mehr auf diese ganzen Rätsel: DDR? Nach 45? Es sind einfach zu viele.
Kurt lacht bitter auf und erhebt sich: Es sei Zeit für seine nächste Runde. Ich sollte auch langsam Feierabend machen.
Die anderen seien schon alle weg, und er würde dann gern abschließen.
Ich schüttele den Kopf. Keinen Schritt gehe ich mehr. Stattdessen ziehe ich meine Pistole aus der Ledertasche, die mich schon die ganze Zeit drückt, und lege sie auf die Bank neben mir. Es ist keine drohende Geste, im Gegenteil - aber Kurt reißt erschrocken die Augen auf, als dürfte ich jetzt nicht aufgeben.
Er stöhnt, läuft los, dreht sich noch einmal um und kommt zurück: Du gehörst nicht hierher, sagt er dann, hab ich Recht, Fritz - und kneift die Augen voller Mißtrauen zusammen.
Aber hinter meiner Stirn gibt es nichts zu sehen. Wenn ich wüßte, wo ich hingehöre, wäre ich schließlich nicht hier. Gern möchte ich ihm alles erzählen. Gerade er würde vielleicht verstehen, daß es manchmal keine Erklärungen mehr gibt, und mir vielleicht sogar gestatten, mich noch einmal an diesen Flügel...
Doch stattdessen greift Kurt plötzlich nach meiner 640 und läßt sie mit spitzen Fingern in seinem Beutel verschwinden. Schluß jetzt, sagt er dazu schroff: Entweder ich sei verschwunden, bis er wiederkommt, oder er hole die Polizei.
Ich verstehe ihn ja. Er hat auch nur seine Befehle, und beim Feierabend hört die Kameradschaft eben auf. Trotzdem werde ich ihn fragen, wenn er wiederkommt, notfalls anflehen - und wenn es das letzte ist, was ich tue: Ich muß auf diesem Flügel spielen. Etwas Melancholisches auf jeden Fall, vielleicht Chopins Winterwind - was hältst Du davon? Einen vollen Saal werde ich mir dazu ausmalen, dich in der ersten Reihe, und glaub mir Liesbeth, ich bin ziemlich gut, habe über 60 Jahre geübt. Ein richtiger Virtuose bin ich geworden, im Einbilden und Ausmalen.
Jetzt kommt er zurück, ich höre seine Schritte schon. Ob ich ihn außerdem bitten kann, Monse meine letzten Notizen zu bringen?
Foth, Stuttgarter Platz 2, eine Visitenkarte liegt bei.
Leb wohl, kleine Schwester, und bitte auch Monse in meinem Namen um Verzeihung. Denn falls Dich diese Zeilen erreichen, habe ich mich in ihm getäuscht, wahrscheinlich nicht nur in ihm.
Ob wenigstens auf Gott noch Verlaß ist? Ich muß es unbedingt herausfinden! Wenn ja, wird er mir verzeihen. Genau wie Du, hoffentlich.
So Etwas, damit du auch noch was lernst, Benny, nennt man Ironie der Geschichte: Dass sich die Creme der internationalen Naziforschung ausgerechnet im ehemaligen Haus des Lehrers traf war in meinen Augen jedenfalls dasselbe, als würden hundert Nobelpreisträger in einer Sonderschule Seifenblasen pusten. Im Grunde war der ganze Alexanderplatz mit
Weitere Kostenlose Bücher