Die Nachhut
man zutiefst von einer guten und gerechten Sache überzeugt gewesen sei. Mit Selbstverständlichkeit hätten er und Millionen andere junge Soldaten dafür alle Anstrengungen auf sich genommen, in Selbstaufgabe und grenzenlosem Vertrauen auf unsere Führung ...
Nicht alles ist zu verstehen. Akustisch schon, so wie er brüllt, aber vieles ergibt einfach keinen Sinn.
Zum Beispiel spricht er von »Umerziehung« und »Überfremdung«. So weit sei es schon gekommen, daß viele Kinder in der ersten Klasse eine Fremdsprache lernen müssen. An dieser Stelle legt Kiefer eine selbstgefällige Pause ein, und ich denke: Was ist daran so schlimm? Das können sie doch gut gebrauchen in Frankreich oder wo immer sie künftig ihren Mann stehen! Aber dann sagt er, und er raunt es, als wäre er nun auf dem Gipfel seiner armseligen Rhetorik angekommen: Und diese Fremdsprache sei Deutsch! Trotz des peinlichen Versprechers springt sein Publikum auf und applaudiert. Sie haben es nicht mal bemerkt oder sehen frenetisch darüber hinweg.
So ist es mit vielen Dingen: Ich verstehe die Pointen nicht, über die sie lachen, und kaum die Tragödien, die sie beklagen. Von Ausländern ist viel die Rede, als hätte unser Volk nicht mit sich selbst genug zu tun. Von Untergang, Verderben und einer glorreichen Vergangenheit - dabei findet die Veranstaltung in diesem Augenblick statt, vor meinen Augen.
Verstört gebe ich meine Mitschrift auf und will zurück an den Tisch, da entdecke ich es. Ein schweres Tuch läßt die Konturen nur ahnen. Zudem hat ein Banause leere Schnapsflaschen darauf drapiert. Ob es wohl gestimmt ist? Ob ich mich einfach mal ransetze? Ob meine steifen Finger überhaupt noch umsetzen können, was sie jahrzehntelang ohne Noten und Tasten auf dem Tisch geübt haben? Ich wage es nicht, noch nicht. Stattdessen beginnt im Saal eine Gitarre zu klimpern, dazu erhebt sich ein dünnes Stimmchen und fordert zum Mitsingen auf. Es soll wohl An der Saale hellem Strande werden, aber niemand stimmt ein. Selbst die einfachsten Melodien können sie nicht. Erst im Refrain von Die Gedanken sind frei brummen einige mit. Ich spüre eine Gänsehaut - Rührung ist es nicht.
Ich sitze schon wieder bei Otto und Josef, als dieser Kiefer mit einer Entourage von Bewunderern aus dem Saal in den Gastraum kommt. Einer flitzt voran, um Bier zu holen. Ein Glatzkopf im Anzug geleitet ihn an unseren Tisch. Kiefer scheint Respekt gewohnt, auch ohne Wichs und Kragenspiegel. Er trägt eine Trachtenjacke mit Hornknöpfen. Unter seinem faltigen Hals erkenne ich ein Ritterkreuz am Band - sonst keinerlei Hinweis auf seinen letzten Dienstgrad. Einen peinlichen Moment lang wissen wir deshalb alle nicht, wer wen zuerst zu grüßen hat.
Immerhin ein Ritterkreuzträger - wie Vater! Das macht in meinen Augen mindestens fünf Ränge wett. Vielleicht war Kiefer sogar in echte Kämpfe verwickelt. Dagegen stehen wir natürlich wie blutige Anfänger da. Wir haben ja praktisch nichts dergleichen erlebt und - von wegen Blut! - das eigene gerade mal beim Küchendienst vergossen. Otto aber bleibt trotzdem eisern sitzen.
Heil Hitler! So zackig schleudert Kiefer seine Hand nach vorn, daß er Josef beinahe am Kinn erwischt und sich selbst fast den Arm auskugelt. Wir erwidern den Gruß eher schlapp. Otto winkt nur mit einer Hand ab und hält es nicht mehr aus:
Was das alles heißen solle, will er von Kiefer wissen, und wie er vor allem darauf käme, wir hätten kapituliert?
Wir? Kiefer lächelt: Die Wehrmacht vielleicht - wir nicht!
In aller Form bittet er dann erstmal darum, sich vorstellen zu dürfen: Gestatten, Standartenführer Kiefer. Es sei ihm eine Ehre. Er zögert kurz und fragt nach unseren Namen. Wir sollten das bitte entschuldigen, aber an und für sich kenne er alle noch lebenden Kameraden vom Brigadeführer aufwärts.
Der Reihe nach nennen wir Namen und Dienstgrad. Ungläubig mustert er uns dabei von oben bis unten. Ist es Neid? Wie sich herausstellt, gehörte Kiefer einige Monate zum persönlichen Stab des Reichsführers, zuletzt als Adjutant eines Adjutanten von Himmler, wie er großspurig behauptet.
Von Jagemann, fragt er misstrauisch zurück, viel gehört von dem Mann, aber nie mit ihm zu tun gehabt. Aber Schneid hätten auch wir, das müsse er schon sagen.
Wieso?
Ob ich ihn veralbern wolle: Hier in voller Uniform aufzutauchen, und dann noch als ein von Jagemann. Also wirklich, sagt er, Respekt, mein Lieber! Dabei schüttelt er lachend den Kopf.
Eigentlich finde
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