Die Nachhut
Vergangenheit distanzieren, als die eigenen Wurzeln zu verleugnen? Hatte es nicht das ganze Land so gemacht? Hitler war es, die Nazis - aber doch niemand aus der Verwandtschaft. Sie waren abstrakte Monster, ohne Namen und Familien. Oder kennst du einen persönlich? Genau genommen war Fritz auch mein erster echter Nazi. Ich wollte ihn nicht unbedingt zum Opa haben, aber mal abgesehen von seinen uncoolen Klamotten und dem Schwachsinn, den er schrieb und redete, war er nicht so unsympathisch, wie man sich diese Leute sonst vorstellte. Oder vorzustellen hatte?
Jetzt wirst du wieder aufheulen, Evelyn, ich weiß schon: Dass man das weder trennen noch von diesen Dingen absehen kann. Dass man bei all dem nicht vergessen darf, was sie verbrochen haben, wofür sie standen und heute noch stehen. Aber - du hast ja Recht.
30. MÄRZ/II So kann man sich täuschen, Liesbeth: Alles muß ich zurücknehmen, was ich über Jan und seine Freunde gedacht und voreilig aufgeschrieben habe - denn ohne sie wären wir nicht weit gekommen. Zwar bin ich nicht sicher, ob sie zufällig den gleichen Weg hatten, wie sie behaupten, oder uns gefolgt sind, wie ich vermute. Aber darauf kam es nicht an: Wir saßen mit leerem Tank am Straßenrand und hatten noch nicht mal begonnen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen - da schickte sie schon der Himmel.
Ihr Auto war vollbesetzt, der dicke Anführer, Jan und drei andere, die für mich aufgrund ihrer Frisuren (darf man das so nennen?), den gleichen Jacken und Stiefeln immer noch schwer zu unterscheiden sind. Sie überschlugen sich sofort vor Hilfsbereitschaft. Vielleicht ist auf die Jugend ja doch noch Verlaß.
Zwei sind gleich weitergefahren, um Hilfe zu holen. In der Zwischenzeit lauschen Jan und die anderen Ottos Geschichten aus den frühen Tagen des Krieges, an denen er in Wirklichkeit auch nie beteiligt war. Tatsächlich scheinen die Jungen an der Heimatfront sogar mehr zu erleben als wir. Von Kämpfen gegen Russen und Türken berichten sie und staunen darüber, daß wir darüber staunen, daß die Türken nicht mehr zu unseren Verbündeten zählen. Das könnten sie sich nun überhaupt nicht vorstellen. Wir dagegen wissen nicht, was ein Döner ist, den sie neulich - wie sie es nennen - »abgefackelt« hätten. Der Muselmann sei tags zuvor mit einem armlangen Messer auf sie losgegangen, nur weil sie seinen Laden mit einem freundlichen Sieg-Heil betreten haben. Nachts seien sie dann mit Benzinkanistern hin, berichten sie stolz. Wie hinterhältige Partisanen, denke ich - was sollen das für Heldentaten sein?
Bei den Russen, von denen sie reden, soll es sich eigentlich um Volksdeutsche handeln, und an diesem Punkt wird es vollends verwirrend: Angeblich werden sie in großer Zahl im Kernreich angesiedelt, stammen aus Kasachstan oder von der Wolga, aber zeigen wenig Ambitionen, sich hiesiges Brauchtum anzueignen. In ihren Familien werde weiter Russisch gesprochen. Die Mädchen würden keine echten Deutschen küssen (umgekehrt selbstredend auch nicht, wie Jan versichert). Auf dem Schulhof seien die Russen allerdings gefürchtet, weil sie eine Art Faustkampf mit Füßen beherrschen.
Man müßte doch wenigstens wissen, ob es nun Russen seien oder Deutsche, wendet Josef ein und legt dabei einem der Knaben behutsam seine Hand auf den Oberschenkel. Dieses ewige Getatsche! Jahrzehnte haben wir versucht, ihm das abzugewöhnen. Hoffnungslos. Gerade vor den jungen Burschen spreizt er sich wie ein Pfau, starrt ihnen unangemessen lange ins Gesicht, und ich habe auch seine heimlichen Blicke nicht übersehen.
Jan und seine Freunde nennen die ominösen Deutschrussen mal Aussiedler, mal Umsiedler und scheinen keinen Schimmer zu haben, wie es sich mit diesen Leuten tatsächlich verhält. War es seinerzeit nicht genau umgekehrt gedacht? Ein Volk ohne Raum kann doch unmöglich noch enger zusammenrücken! Das finden die Burschen allerdings auch. Und ich kann mir nicht helfen: Früher hat man den Volksgenossen die Siedlungspolitik besser erklärt! Gibt es denn keine Schulungen mehr für den Nachwuchs der Partei?
Nach einer halben Stunde sind die anderen mit einer Art Abschleppwagen zurück. Der kleine Lkw hat ein großes Führerhaus mit dunklen Scheiben und hinten eine Pritsche. Obwohl keinerlei Hoheitszeichen zu erkennen sind, gehört er offenbar zur Wehrmacht, denn er ist in dunkelgrünen Tarnfarben gemustert, ebenso wie der fleckige Kampfanzug des Fahrers.
Namen würden keine Rolle spielen, sagt er zur Begrüßung, ist
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