Die Nachhut
und tatsächlich genießen wir erstmals so etwas wie Respekt, beinahe Ehrfurcht. Außerdem steht eine Brotzeit für uns bereit.
Unsere Begleiter sind nach der Ankunft sofort im Saal verschwunden. Durch eine halb geöffnete Flügeltür mit einem schweren Vorhang davor hört man Stimmen und Gläser klirren, ab und zu Beifall. Der Wirt kommt hinter seinem Schanktisch hervor, trägt einen gezwirbelten Schnurrbart wie der alte Kaiser und fragt, was wir trinken wollen: Vielleicht ein Pils? Otto nickt sofort. Mir sieht er offenbar die Bedenken an: Oder Fanta, Cola, einen Saft vielleicht?
Die gute alte Fanta, es gibt sie immer noch! Ich glaube, die letzte habe ich mit Dir geteilt. Unser Abschiedsabend. Meine Wahl ist also klar. Josef bekommt eine Coca-Cola. Wir riechen an den Gläsern wie vor einem guten Schluck Wein und kosten jeder mal beim anderen. Ein paar junge Kerle am Nachbartisch kichern. Wir müssen versuchen, etwas mehr Haltung zu wahren!
Auf dem Tisch neben mir liegen Zeitungen, darunter ein Völkischer Beobachter. Nachrichten! Dann die Enttäuschung: Es ist nur eine uralte Ausgabe von 1939. Etwas frischer sehen andere Blätter aus, die ich nicht kenne. Eine heißt National-Zeitung und fragt auf der Titelseite: Müssen Deutsche ewig büßen? Ganz schön vorwitzig, aber noch nichts gegen die übergroßen roten Buchstaben auf der nächsten: »Krieg: Der Kanzler sagt NEIN« wird da behauptet, gleich darunter das schamlose Bild einer nackten Frau.
So unauffällig wie möglich schiebe ich die Nackte zu Josef über den Tisch. Der reißt entsetzt die Augen auf und bedeckt sie mit einem Bierdeckel. Man beobachtet uns immer noch verstohlen. Ich lächele zurück und schlendere durch den Raum. Ein Mann bewacht die Tür zwischen Gaststätte und Saal. »Ordner« steht auf seiner Armbinde, und ordentlich hält er mir sofort den Vorhang auf. Aber ich spähe lieber erstmal vorsichtig durch den Schlitz.
An langen Tischen sitzen mindestens zweihundert vorwiegend junge Männer. Sie trinken Bier und lauschen den Reden, grölen und brüsten sich mit Selbstverständlichkeiten: Ich bin stolz ein Deutscher zu sein, lese ich auf einer Jacke, die dem Eingang nahe über einem Stuhl hängt. Auch ein paar vereinzelte Damen sind da, allerdings nicht gerade die Zierden unserer Rasse. Oder kannst Du Dich erinnern, daß geschminkte Frauen jemals Zutritt zu Parteiveranstaltungen hatten?
Der Saal selbst ist ebenso lieblos mit ein paar schwarz-weiß-roten Girlanden geschmückt. Gardinen und Tischtücher sind schmuddelig gelb. Hinter der Bühne verdeckt ein Banner nur notdürftig die Reste einer Losung: ...ozialismus siegt! Das ist alles, und einmal mehr überkommen mich Zweifel: Wie soll der Nationalsozialismus siegen, wenn sogar Buchstaben Mangelware sind? Dann setzt sich eine neue Stimme gegen das allgemeine Gemurmel durch und nach ein paar Sätzen, die mich sofort aufhorchen lassen, stenographiere ich hastig mit:
Von amerikanischen Verhältnissen spricht der Redner, der sich nur in seinem feinen Anzug von den anderen Kahlköpfen im Publikum unterscheidet. Die internationale Geldmafia habe das Land fest im Würgegriff, sagt er, und die Mehrheit wolle nicht mal sehen, wie unser Volk seiner Identität beraubt werde. Vaterland sei ein Fremdwort geworden. Unsere Soldaten würden ungestraft als Mörder verunglimpft. Die Wiedervereinigung Rumpfdeutschlands habe es in aller Deutlichkeit gezeigt: Unter dem Joch der Besatzung könne es keine Freiheit geben. Wie lange wolle man noch im Büßergewand durch den Staub kriechen, fragt der Redner zum Schluß und fordert seine Zuhörer auf, den Kampf nicht aufzugeben. Eines Tages werde die Stunde der Wahrheit schlagen. Und dann wehe den Verrätern!
Richtige und doch merkwürdige Sätze sind das. Vieles deckt sich mit meinen Beobachtungen. Aber was meint er mit Rumpfdeutschland und Buße? Meine ratlosen Blicke begegnen denen von Otto und Josef in der Ecke, die sich offenbar auch keinen Reim darauf machen können. Die Leute im Saal aber klatschen stürmisch und spitzen die Ohren, als der nächste Redner die Bühne betritt. Er heißt Kiefer, wird als Weltkriegsveteran vorgestellt und ist doch kaum älter als wir. Niemals hat dieser junge Kerl schon von 1914 bis 18 gekämpft. Doch alle lauschen ergriffen seinen Worten:
Oft frage ihn die heutige Generation, so beginnt er, wie das die Väter und Großväter bis zum bitteren Ende durchstehen konnten. Als Überlebender könne er dann immer nur antworten, daß
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