Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)

lange, struppige Haar aus dem Gesicht – und Barnes erkannte in dem Gesicht des Jungen Ephraim Goodweathers Züge wieder. Dieselben Augen, derselbe ernsthafte Ausdruck. Zachary Goodweather.
    Ganz offensichtlich ging es dem Jungen nicht gut. Er hielt sich die Hand an die Kehle und keuchte schwer. Instinktiv – vor Jahrmillionen hatte er einmal den hippokratischen Eid geschworen – ging Barnes auf Zack zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ganz ruhig. Ich bin Arzt.«
    Der Junge schlug Barnes’ Arm zur Seite und lief ohne zu zögern auf den Meister zu. Dann fiel er auf die Knie, blickte flehentlich zu ihm auf und öffnete den Mund. Der Meister wartete einige Sekunden – er schien die Situation zu genießen –, bis er seinen Arm hob und sich mit seinem Mittelfinger in den Daumen ritzte. Dann streckte er die Hand aus und ließ einen Tropfen weißes Blut – ein einziger Tropfen, mehr nicht – in den Mund des Jungen fallen.
    Barnes spürte, wie ihm wieder schlecht wurde – aber er hatte sich ja gerade erst übergeben.
    Zack schloss den Mund, verzog das Gesicht – entweder aufgrund des Geschmacks oder weil das Schlucken schmerzte – und nahm die Hand von der Kehle. Es dauerte nicht lange, bis er aufhörte zu keuchen und wieder frei atmen konnte. Gleichzeitig kehrte die gesunde Blässe in sein Gesicht zurück.
    Der Junge zwinkerte und blickte umher, als würde er diesen Raum zum ersten Mal sehen. Seine Mutter – oder das, was aus seiner Mutter geworden war – stand neben der Tür. Hatte der Schmerz ihres geliebten Sohnes sie hierhergelockt? Auf ihrem Gesicht war keinerlei Emotion zu erkennen. Wie oft fand dieses Blutritual statt? Jede Woche? Jeden Tag?
    Dann fiel Zacks Blick auf Barnes. »Warum ist ein Mensch hier?«, krächzte er.
    Barnes war überrascht von der überheblichen Art des Jungen, hatte er Goodweathers Sohn doch als nachdenklichen, wohlerzogenen Burschen in Erinnerung. Er strich sich die Haare glatt und versuchte, eine gewisse Würde auszustrahlen. »Erinnerst du dich an mich, Zachary?«
    Der Junge schürzte die Lippen. »Sollte ich?«
    »Ich war der Vorgesetzte deines Vaters. Früher. In der alten Welt.«
    Wieder blitzte Ephraim Goodweather im Gesicht seines Sohnes auf – aber genau so, wie der Ephraim, der Barnes einen Besuch abgestattet hatte, nicht mehr derselbe war, so war auch Zachary nicht mehr derselbe. Sein Blick war distanziert und misstrauisch. Er verhielt sich wie ein junger Prinz.
    »Mein Vater ist tot.«
    Barnes wollte gerade etwas erwidern, doch im letzten Moment entschied er sich dagegen. Er blickte ängstlich zum Meister – und zum ersten Mal meinte er das gesamte Bild zu erkennen, das dieses Geschöpf komponiert hatte; ein Bild, in dem jeder die ihm zugewiesene Rolle spielte; ein Bild, in dem sich ein Kind gegen seinen eigenen Vater wandte … Und plötzlich empfand er so etwas wie Mitleid für Ephraim Goodweather. Aber Everett Barnes wäre nicht er selbst gewesen, hätte dieses Gefühl allzu lange angehalten.

Columbia University
    Du musst Folgendes über das Occido Lumen wissen. Quinlans Augen funkelten ungewöhnlich lebendig. Die Herkunftsstätte des Meisters ist mit zwei Worten gekennzeichnet: ›obscura‹ und ›aeterna‹ – ›dunkel‹ und ›ewig‹. Nicht gerade exakte Koordinaten.
    »Die Koordinaten der anderen Herkunftsstätten waren alle genau dort verzeichnet, nicht wahr?«, sagte Vasiliy. Der Kammerjäger bastelte eifrig an der Gutenberg-Bibel herum, um ihr das Aussehen des Occido Lumen zu verleihen. Neben ihm stapelten sich die anderen antiken Bücher aus der Bibliothek, die er zu diesem Zweck ausschlachtete.
    Aber warum? Warum lediglich diese zwei Worte?
    »Glaubst du, das könnte der Schlüssel sein?«
    Ja. Ich dachte eigentlich, dass der Schlüssel zur Herkunftsstätte des Meisters in dem verborgen ist, was im Occido Lumen steht. Aber offenbar verbirgt er sich in dem, was nicht darin steht. Der Meister kam als letzter auf diese Welt, er ist der jüngste. Es dauerte Jahrhunderte, um so viel Macht zu erringen, dass er die anderen Alten vernichten konnte. Und jetzt ist er in die Neue Welt zurückgekehrt, nach Manhattan. Warum?
    »Weil er seine eigene Herkunftsstätte beschützen will.«
    Das würde das Zeichen am Himmel erklären. Aber wo ist si e ?
    Vasiliy schien plötzlich an etwas ganz anderes zu denken; seine Augen starrten irgendwo in die Ferne.
    Was ist mit dir?
    »Nichts. Ich … Ich habe gerade an Eph gedacht. Er ist dort draußen unterwegs. Mit