Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
zweiten, die wir als solche nicht mehr erkennen und mehr und mehr mit der ersten verwechseln! Wir dürften uns dann keiner gemeinsam erfahrbaren Wirklichkeit mehr sicher sein! Sie verstehen, dass dies eine unerträgliche Erklärung für Ihre Uninformiertheit wäre. Denn – über die Frage von Leben und Tod hinaus – wäre es gleichbedeutend mit dem Ende der Freiheit.
    Ich will Sie also um meinetwillen, bevor Sie mit mir auf die Insel zu Stieftaal und Anna und den Gräbern zurückkehren, zunächst über Reeper in Kenntnis setzen und Ihrer Erinnerung aufhelfen. Und ich bitte Sie, mich in Ihrem nächsten Brief davon zu überzeugen, dass Sie all das doch gewusst und mir Ihre Vergesslichkeit nur vorgespielt haben – vielleicht, um mich zu prüfen. Es geht ja um sehr viel mehr als mein unbedeutendes Leben, wenn es gelingen soll, die Welt des Geldes zu retten. »Die Vernunft ist ein Schwert mit drei Schneiden«, wie die Menschen an der Küste unten, in Oneglia sagen, und so setzt, was ich zu berichten habe, nicht nur einen Schnitt in unsere Geschichte:
    Boris Reeper, ein ungewöhnlich intelligenter, kleinwüchsiger, magerer, dreckverklebter weißer Junge aus Chicago – aufgewachsen als Putzer in den Videohöllen, ein Straßenkind wie so viele, die ihre Eltern nicht kannten und ratlosen Priestern davongelaufen waren, einer unter zahllosen Ungeliebten, die zu früh alle Techniken des Überlebens erlernt hatten, die Schule für zeitraubenden Humbug, Lehrer für Lügner hielten, ein Kind, das genau wusste, was zählt (Versprechungen nämlich gar nichts, Wohltaten wenig, Geld alles), mit zehn Jahren Computerdieb und vier Jahre später bereits ein geschickter Programmfälscher mit der Aussicht, ein ganz großer Hacker zu werden – Boris Reeper hatte als Siebzehnjähriger eine Vision. Eines Tages erschien ihm gegen sieben Uhr abends – er hatte seit einem um elf Uhr vormittags im Müll der Spielhalle gefundenen halben Burger nichts gegessen – mitten in einem Cyberspace-Free-Trip, wo er hinter der Brille in einem Laserpanzer gegen den Satan kämpfte, eine vom Spielprogramm nicht vorgesehene merkwürdige Gestalt, die sich ihm als Jesus Christus vorstellte, aber keineswegs das antike Kostüm trug, das er aus Fernsehfilmen kannte. Wie er später herausfand, hatte der Erlöser Gestalt und Kleidung Maximilien Robespierres angenommen. Jesus-Robespierre also sagte auf dem virtuellen Schießplatz im breitesten Chicago-Amerikanisch: »Ja, Boris, ich bin es im Tempel! Der Teufel ist kein Bild. Sondern das Bild ist der Teufel« und befahl ihm: »Zerstöre die Bilder. Dies ist der Auftrag Gottes an dich, Boris Reeper, seinen auserwählten Weltputzer« (in seinen Erinnerungen zitiert Reeper das seltsame Wort »Holy Purifyer of the real Globe«). Reeper, der erste »Heilige der Realität«, wie er sich später nannte, soll daraufhin den Baseballschläger des Hallenaufsehers entwendet und damit den Saal zerlegt haben. Das kann Legende sein. Sicher ist jedoch: Er änderte sein Leben, belegte das staatliche Bildungsprogramm US-Alpha , das ihm wöchentlich nach jeweils bestandener Abschnittsprüfung die Rente sicherte, die Alphabetisierungswilligen zustand. Das wenige Geld teilte er mit anderen hungrigen Video-Kids aus Chicago-Downtown und zwei nach Bestmood -Tabletten süchtigen Mädchen, mit denen er seine Sekte Die Heiligen der Wirklichkeit gründete, zunächst unter dem Namen SA – Society of Antivideoholics , später als INRI – Initiative of Reality Inspiration . Nach dem erfolgreichen Abschluss des US-Alpha -Programms publizierte er mit Unterstützung der damals siebzigjährigen Frauenrechtlerin Nora Noman (die eigentlich Vanessa Littlewood hieß und mit der er angeblich ein Verhältnis hatte) ein Blättchen unter dem Namen Realreal und nahm wenig später – zugleich mit einem Philosophiestipendium der LiveYour-Life-Foundation des Rank Multivision- Konzerns (wenn die gewusst hätten, wen sie da förderten!) – den aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Abbildung der Welt auf. Er promovierte an der University of Chicago über die Philosophie des Als-Ob des 1933 in Halle gestorbenen Philosophen Hans Vaihinger und entschied sich zur gleichen Zeit, die deutsche und die französische Sprache zu erlernen. Schon damals umgab ihn der Ruf eines brillanten Redners und den Frauen zugeneigten Lebemannes. Dass man ihn jedoch bald in Europa finden würde, höchst begütert und mit allen Insignien eines Religionsstifters versehen, hätte

Weitere Kostenlose Bücher