Die Nacht der Haendler
seinerzeit niemand vorausgesagt. »Die Welt geht zugrunde, weil wir sie identisch abbilden können; der Teufel ist ein Fotograf«, hatte er als junger Mann erklärt und damit in den akademischen Kreisen Chicagos jenes Lächeln geerntet, das höflicher Ausdruck der Ansicht war, er sei an einer Überhitzung des Denkapparates erkrankt. Nicht wenige wollten dies später vorhergesehen haben: Eine solche Karriere von der Straße in die Höhen der Philosophie – das konnte nicht gut gehen. »Wir haben uns eine fiktive zweite Welt geschaffen, die wir mit der ersten, der wirklichen und wahren, verwechseln! Genauso verwechseln wir das Geld mit den Dingen, obwohl es bloß eine eingebildete Wirklichkeit ist: Geld tut so als ob – aber es ist nicht!« So ließ er sich später in Europa vernehmen, als er in Spanien und Italien zu Vortragsreisen eingeladen wurde. Ich erinnere mich gut an seine ersten Interviews. Er war ein eloquenter Showgast, bevor er sich weigerte, im Fernsehen aufzutreten. Seine Argumente reichten von den für die Globe-Net-News gefälschten Kriegsbildern der US-Invasion in Iran, die aus Manöveraufnahmen stammten, bis hin zu den Tierfilmen, die unsere Kinder noch für die Wirklichkeit des Planeten nahmen, als die vorgeführten Tiere längst ausgestorben waren; und sie gipfelten in der Behauptung, inzwischen würden vier Fünftel der Menschheit beherrscht von einer epidemischen Bilder-sucht, die ihnen jeden Bezug zur Wirklichkeit verstellte. Begonnen habe die Epidemie mit den Reality-Shows der achtziger Jahre, und der globale Sündenfall sei erfolgt, als es möglich geworden war, Abbildungen von Menschen und Gegenständen in beliebiger Weise und jederzeit ineinander zu kopieren und in bewegte Beziehung zu setzen. So habe das Fälschen ( faking ) die Wirklichkeit ersetzt. Ja, es sei kurz davor, dass kaum ein Mensch mehr wisse, wie die Welt tatsächlich aussehe, während ihre beliebig zu arrangierenden Bildkompositionen sich täglich verdoppelten. »Das Paradies ist die Welt«, sagte er. »Und die Vertreibung aus ihr ist unser Schritt in ihr Abbild. Am Baum der Erkenntnis wuchs die Frucht der Fotografie, die Schlange hieß Daguerre.« Erinnern Sie sich, mein reicher Freund, an die faszinierenden Aufnahmen von Steppen und Dschungeln, Korallenriffen und Tiefseeschluchten? Noch als es weder die Affenbrotbäume noch die Korallen mehr gab, lernten unsere Kinder, wie wichtig es sei, sie zu schützen … Noch als die Regenwälder von Papua-Neuginea und Benin und Brasilien längst zu verkarsteten Narben des Planeten geworden waren, lernten unsere Kinder, dass kein Tropenholz für Fensterrahmen verwendet werden dürfe. Und als die blühenden Almwiesen in diversen Fernsehserien längst aus uralten Archivaufnahmen eingefaked wurden, um die Helden im gewünschten Ambiente agieren zu lassen, glaubten wir, dass die Aufnahmen wirklich an so üppigen Orten gedreht worden seien … Hatte Reeper nicht recht? Wie hätte er denn annehmen können, dass tatsächlich noch so viel Vernunft in der Spezies steckte, um im letzten Augenblick zu retten, was noch zu retten war, und dass die Natur sich in einer alle Wissenschaftler widerlegenden Weise erholte, wirklich erholte, mit einer so ungeheuerlichen Kraft, einem so unbändigen Lebenswillen, dass wir zunächst nicht glauben wollten, was wir doch sahen und fühlten? So dass wir, anstatt glücklich zu sein, unsicher wurden, ob es denn wirklich die »erste Welt« war, deren Heilung wir erlebten? Oder nur eine weitere, von Menschen gemachte Täuschung? Die »zweite Welt«, von der er sprach und von der immer mehr Menschen sprachen, die sein Zurück zur Wirklichkeit gelesen und zu ihrer Hoffnung erhoben hatten – war sie nicht längst, wie er sagte, »größer, geschichtlicher und gegenwärtiger geworden als die erste, die uns gegeben ist und die wir erhalten müssen, wenn wir uns selbst erhalten wollen? Wann werden wir feststellen, dass Videobänder und digitale Speicher keine Erinnerung und keine Erfahrung enthalten? Dass wir von Fotografien weder satt noch warm werden, weder im Magen noch im Herzen! Die Kopie der Vergangenheit hat über die Gegenwart gesiegt. Darum werden wir keine Zukunft mehr haben, wenn wir nicht lernen, die gegenwärtige Wirklichkeit zu retten! Und dies gelingt nur durch die Zerstörung aller virtuellen Welten!« Was wie eine der zahllosen Sekten begonnen hatte, wuchs sich innerhalb weniger Jahre zu einer Bewegung aus. Reeper hatte erkannt, dass er nach Europa kommen
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