Die Nacht der Haendler
müsse, um aus seiner Cyberspace-Stürmerei eine politische Utopie zu machen. Europa war der Nabel aller missionarischen Glücksideen. Hier fügte er den Ismen der Geschichte seinen Antimagismus hinzu. Und listig formulierte er die Parole seiner Bewegung zuerst nicht englisch, sondern französisch »Retour à la Réalité!«. Retour à la Réalité , einfacher konnte man es kaum sagen, die Formel ließ sich in jeder Weltsprache nachplappern, und fast täglich hörten wir Meldungen von Ansammlungen zahlloser Menschen, die sich unter diesem Leitsatz zusammenfanden, in Turin oder Reykjavik, St. Petersburg, Heidelberg, Santiago de Compostela oder Lyon, um gemeinsam für die erste Welt zu meditieren – wobei angeblich jedes Mal einige Fernsehapparate in nahegelegenen Wohnungen durch die vereinigten Geisteskräfte der Antimagisten zur Implosion gebracht worden sein sollen. Mit seinem rasch zunehmenden Erfolg vor allem bei jungen Menschen begann man Reeper ernst zu nehmen, das hieß, er wurde zum Problem. Sein Schlachtruf »Réalité! Vérité! Félicité!«, den er, in Erinnerung an die Jesus-Robespierre-Erscheinung im Chicagoer Spielcomputer formulierte, hallte bald durch alle Städte Europas und griff von hier wiederum über auf die Intellektuellen der USA. Die Medienkonzerne sahen sich herausgefordert, und sie traten gegen ihn an, vereint mit der Computerindustrie, den Herstellern von Ton- und Bildträgern aller Art – mithin die ganze damalige Welt. Wer die Macht über Bilder hatte, besaß die Macht über die Realität. Reeper war entschlossen, den Satz umzukehren. Das musste zum Kampf führen.
Ich will Sie daran erinnern, dass es nicht um gut oder schlecht ging. Allen ging es um die Rettung der Welt (wie schon immer) – und es war nicht leicht, zu entscheiden, welche Welt denn die einen oder die anderen gerettet wissen wollten. Es war einigermaßen verrückt, dass uns mitten in der allgemeinen Behauptung, die Menschheit habe nun endgültig alle Träume vom Glück und ihre verhängnisvollen Folgen hinter sich gelassen, nicht nur absurde Kriege beschert wurden, sondern philosophische Streitjahre, als sei das achtzehnte Jahrhundert wiedergekehrt. So fanden wir uns, gerade erst den Ideologien entkommen, in einer neuen Ideologie wieder. Boris Reeper, der sich nun Antimago nannte (seine Anhänger sprachen mit Ehrfurcht in der Stimme von ihm als dem Großen Antimago ), wurde zum bestgehassten Objekt der Medien. Bildersturm warf man ihm vor, reaktionär sei er, ein Zensor der freien Information. Ihm aber gelang es, seiner wachsenden Gemeinde als der einzig Fortschrittliche zu erscheinen, als er zunächst zur Enthaltsamkeit gegenüber jeder Form der Fotografie aufrief, zur TV-Verweigerung, zur Videoabstinenz. Lavierende Politiker betraten sein Lager. Die Alten entdeckten ihn als Erlöser. Manches Erbe wuchs ihm zu. Er wucherte damit. Noch immer ein David gegen die Konzerne. Seine Bewegung wuchs. Nun kam die politische Verfemung. Die Furcht vor der sich abzeichnenden Macht. Dann die Ungeduld seiner Anhänger. Das Abfackeln von Kinopalästen. Die polizeiliche Verfolgung. Schließlich der Terror der Antimagisten im Namen des Glücks der Menschheit. »Aber das Glück«, sagen die Alten in Alassio, »ist ein Schwert mit messerscharfem Griff.«
Als endlich in Parlamenten über den Antimagismus debattiert wurde, wusste Reeper, dass er es geschafft hatte. Sogar in Silvesteransprachen von Präsidenten tauchte sein Name auf. Er entgegnete mit der Frage, ob die Reden tatsächlich von gewählten Staatsoberhäuptern gehalten worden seien oder von ihren computeranimierten Bildern? Nicht mit eigenen Worten, sondern mit digital zusammengefaketen Sätzen? Wer wisse schon noch, wie wer wirklich aussehe und wie seine Stimme tatsächlich klinge? Gab es diese Präsidentinnen und Präsidenten überhaupt, die sich erst die Medien und dann die Macht angeeignet hatten? Nötig waren sie jedenfalls, um sie im Fernsehen vorzuweisen, nicht … So wenig wie Meere, Berge und Wälder. Wir haben alles im Archiv, beliebig zu ändern, in jede Perspektive zu drehen, unter jedes Wetter zu legen, und zu bevölkern, mit wem immer wir wollen. Es gab ja die ganze Welt und die Menschen irgendwann einmal als Vor-Bild … (Auch den Antimago, der die Reden der Herrschenden nur um wenige Jahre überlebte.) Nun, das ist lange her, fast schon ein Märchen … »Aber Märchen«, sagen die Leute in Albenga, »sind die Schwerter der Ewigkeit« …
So weit für heute,
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