Die Nacht der Haendler
auf der Insel. Dann öffnete sich die Spitze des Glashauses, und aus den Spalten zwischen den Segmenten stoben die Schmetterlinge auf.
So fand ich mich, am Morgen, in der Küche, ein bereitetes Frühstück vor mir; wach, doch in meinem Kopf kreisten die Nachtbilder, als sollte ich niemals mehr einen neuen, noch unbebilderten Tag haben, als müsste ich von nun an ein schon vergangener Mensch sein. Ich erinnerte mich an Stieftaals Anweisung, an Annas Umarmung. Aber diese Erinnerung war ungewiss, so als sei sie nicht Teil meiner Erfahrung, sondern mir erzählt worden.
Haben Sie, mein Freund, nie empfunden, wie ein Erlebnis
– der Gang durch eine Straße in einer fremden Stadt, spitze Giebel, unbekannte Gesichter, das andere Licht in den Augen, die unvertraute Komposition der Gerüche – haben Sie nie dabei empfunden, dass mit der Neugier zugleich die Ahnung wuchs: Ich bin gar nicht hier, wo die anderen sind, die ich sehe! Die anderen sind nicht wirklich hier! Hinter meinem Rücken werden die Häuser sich in Nichts auflösen, hinter mir ist leerer Raum! Der Witz aus unserer Studienzeit »Glauben Sie ja nicht, wo Sie sind!« wird sich in eine Forderung der Wirklichkeit verwandeln, und die Frage, ob ich denn für andere sichtbar sei, wird sich nicht mehr beantworten lassen! Ich erinnere mich daran, dass ich an den Einreisestempeln in meinem Pass Halt suchte, wenn eine Gegend sich derart in einen Traum auflöste. Aber die Träume, nicht wahr, die Träume können wir nicht mehr unterscheiden von der virtuellen Welt. Stimmen Sie mir zu? Das Unwahrscheinlichste lässt sich ebenso programmieren wie die Fahrpläne der Schnellzüge. Machbare Angstträume, hergestelltes Glück, fiktiver Trost, programmierte Spaziergänge in einer programmierten Natur. Der früher leicht gewählte Schritt über die Schwelle eines Hauses steht jetzt im Verdacht der Fälschung: Die Frau, die du hier besuchen willst, ist lange Staub; die dir entgegentritt, ein Weib aus Bits und Bytes, identisch gefaked wie du selbst. Kein Alptraum, ein Alptag. Lieber Freund! Kennen Sie noch ein Entsetzen, noch eine Sehnsucht, eine Lust, die nicht zerlegbar wären in Ja und Nein und Eins und Null?
Ich ziehe Landkarten zu Hilfe. Ja, hier verläuft die Küste Liguriens, ja, hier ist Dolcedo vermerkt, ein Kreis mit einem Innenpunkt, hier Pantasina, ein Pünktchen. Dies sind die kleinen Mäander der Straßen, jede Kurve ist nachvollziehbar, dies die Sterne für unbedingt aufzusuchende Orte, hier die grünen Linien der besonders sehenswerten Aussicht. Warum aber sollte die Landkarte, die ich betrachte, nicht Teil eines Programms sein? Warum nicht meine Betrachtung Teil eines fremden Planes? Ich sehe, dass die Luft in engen Wellen aufsteigt von den heißen Schieferplatten meiner Terrasse, ich sehe, wie die nahen Bäume in der gewellten Luft zittern, die ferne Küste verschwimmt. Warum aber sollte nicht auch diese Unschärfe Teil einer digitalen Installation sein? Langsam lerne ich, die viel verachtete Lust von Männern neu zu sehen: den Krieg und den Tod – als letzten und unwiderleglichen Beweis der Wirklichkeit … Vielleicht ist die knabenhafte Sehnsucht nach dem Tod nichts anderes als der Wunsch, das eigene Leben, für einen Augenblick wenigstens, festzuhalten – so, als wäre die Gegenwart nur gewiss in dem Moment, in dem sie unwiderruflich in Vergangenheit umschlägt. Kommen Sie mit mir, den engen Weg hinauf, der hinter Charisias Haus weiterführt, ein paar Stufen erleichtern die Steigung, nach einer Biegung liegen links oben die letzten beiden Olivengärten vor uns, in denen oft spät abends noch Antonio arbeitet, der ältere Bruder von Signora Calise. Ihm gehören die Gärten. Kommen Sie, wir grüßen ihn, er winkt mit der Baumsäge herüber, lacht, sein Gesicht ist mit den Jahren der Rinde seiner Bäume ähnlich geworden, wir lachen zurück und steigen weiter hinauf, wo der Pfad eng wird, zu eng für einen Karren, ein Eselssteig nur mehr zwischen wucherndem Gehölz. Hier stehen uralte Pinien, die faserigen roten Stämme sind krumm gewachsen, sie haben sich mühsam in den Wind gebohrt, geduckt, Knoten gebildet, und ihre Kronen greifen nach Süden, grüne Schirme gegen das Meer. Viele sind aufgesplittert von Blitzen, die Stämme zerrissen, Krummholz legt sich in den Weg. Jetzt sehen wir den in seinem unteren Drittel gebrochenen Baum. Seinetwegen sind wir aufgestiegen: Abgeknickt in mehr als zwei Metern Höhe, hängt er mit Fasern und Spleißen noch an seinem
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