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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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haben wieder diesen feuchten Südwind mit dem unaussprechlichen piemontesischen Namen, die Schmerzen in meinen Schultern und Hüften sind nur schwer auszuhalten. Die Gelenkköpfe schaben in den Gelenkpfannen, sogar die Finger lassen sich nur mit Mühe bewegen. Dennoch schreibe ich Ihnen. Sie werden es hoffentlich zu schätzen wissen. Achthundertundachtzig Milliarden in einer Woche! Und jetzt gehen die Börseninspektoren auf Suche, die internationale Bankenaufsicht, die Geheimdienste … Das stimmt mich heiter. Man denkt noch immer in Kategorien des Betrugs, der Spekulation, der Bereicherung und des Diebstahls. Sehr lustig. Mit allem kriminalistischen Wissen rückt man dem Problem zu Leibe, und sogar Sie hoffen auf einen Erfolg der sinnlosen Bemühungen! Sie müssten es besser wissen! Das Geld ist, wie man so sagt, futsch! So viel für heute: Die Börsen haben es nicht mit einem Schwarzen Freitag zu tun, sondern mit einem Schwarzen Loch . Irgendwo zwischen den Kommunikations-Satelliten sitzt oder schwebt oder hängt dieses Loch und schluckt nach Lust und Laune vorbeigleitende Geldströme. Es ernährt sich von ihnen. Und wird nicht satt. Soviel kann ich sagen: Satt wird es nie werden. Im Gegenteil: Je mehr Geld es schluckt, um so größer und tiefer wird das Loch. Suchen Sie also nicht länger in der Schweiz, sie ist voll, ihre Bankkonten laufen über. Vertane Zeit. Ich darf Ihnen versichern, dass die rund 900 Milliarden Dollar nirgends wieder auftauchen werden. Sie sind einfach weg, rubato, perdu, gelöscht und disappeared. Mehr vorerst nicht. Sie würden es nicht begreifen.
    Kehren wir zurück zu jenem Morgen, an dem ich mich allein im Haus des Antimago fand. Ich lief zum Steg hinunter, fand das Boot nicht vor, sah es am anderen Ufer vertäut. Ein klarer Tag, der Herbstnebel hatte sich bereits gehoben, auf ihrem flachen Herbstbogen glitt die Sonne über den Wald, der sich als schwarzer Saum bis zur Südspitze des Sees zog; sie wärmte nicht mehr, aber ihr Licht schien mir kräftiger, entschiedener als in den Tagen zuvor. Ich entschloss mich zu einem Streifzug über die Insel, verließ die vertrauten Wege zwischen Haus, Grabstätte und Oktogon, das geschlossen war, und ging, soweit Gestrüpp und sumpfiges Gelände es zuließen, am Ufer entlang. Ich fühlte mich nicht einsam, aber je länger ich lief, um so heftiger wünschte ich die Rückkehr von Anna und Stieftaal herbei. Und als ich erneut die Anlegestelle erreicht hatte, noch immer lag das Boot am Ufer gegenüber, erinnerte ich mich an das Gefühl, das ich als Kind in der leeren Wohnung hatte: Ich wusste ja, dass meine Mutter nicht heimkehren würde, dass es noch Stunden bis zur abendlichen Rückkehr meines Vaters dauerte; aber das Wissen half nicht, die Wohnung wuchs um mich herum, mit ihrer Größe nahm ihre Leere zu, bis ich es kaum mehr in ihr aushalten konnte und am liebsten auf die Straße hinausgelaufen wäre. Die Wohnung ließ mich aber nicht frei, die Tür zum Treppenhaus war von unsichtbaren Schlössern verriegelt; ich wagte nicht, ihre Klinke zu drücken, aus Angst, sie tatsächlich verschlossen zu finden; ich beruhigte mich mit lauter Musik und beschäftigte mich damit, kleine Spielzeugautos im Flur auf dem glatten Boden anzuschieben und vom einen Ende zum anderen schießen zu lassen, wo sie gegen die Wandleisten knallten. Ich dachte mir einen Wettbewerb aus, zählte die Sekunden, die ein Wagen für die Fahrt brauchte, imaginierte eine internationale Konkurrenz und blieb immer Zweiter. Vielleicht bedurfte es dieser Erinnerung und der mit ihr verbundenen Beklemmung, dass mich nach Stunden, in denen ich ziellos auf der Insel umher gestreift war, mein Wunsch nach einem Gegenüber ins Haus zurücklenkte. Am Dîner der Puppen im Speisesaal ging ich leise vorüber, als müsse ich unbemerkt bleiben, stieg die Treppe hinauf, lief an der Tür meines Zimmers vorbei zum Ende des oberen Flurs, wo eine Treppe sich, schmaler als jene von unten und zweimal gewinkelt, zum Speicher hinaufwand.
    Was ich dort fand, verblüffte mich sehr viel mehr als das Verschwinden eines kleinen Staatshaushaltes in einem Milliardengrab jenseits unserer gottlob inzwischen geheilten Atmosphäre. Ich fand mich wieder im Herzen Boris Reepers. Es schlug dort weiter, ohne Rücksicht auf seinen lange zurückliegenden Tod. Auf dem zweiten Treppenabsatz war ich gestolpert, das Licht aus den Nibelungenfenstern war hier oben so schwach, als stiege man in deutsche Abgründe hinauf, ich hatte mich

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