Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
Es ist sein Saal. Es ist seine Gesellschaft. Er diniert dort bis in alle Ewigkeit. Verstanden? Nein? Mein Gott, ich dachte, man hat mir einen klugen Menschen gesandt, und jetzt sehen Sie mich an wie ein Schaf. Tut nichts. Gehen Sie morgen früh in den Speicher. Dort können Sie arbeiten. Ich lege die Schlüssel-DVD auf den Tisch rechts neben die Speichertür. Es ist ein Code aus zweihundert Zeichen. Sie erhalten damit Zugang zum Programm. Das Passwort heißt Fatalist . Erster Buchstabe groß. Aber kein Wort zu Anna. Vergessen Sie nicht! Kein Sterbenswörtchen! Davon hängt alles ab. Fragen Sie jetzt nichts, sie kommt gleich zurück. Versuchen Sie, Ihren Verstand zu gebrauchen. Und bedenken Sie bitte: Jede Ihrer Äußerungen, jede Ihrer Bewegungen wird aufgezeichnet. Alles nimmt Reeper wahr. Ignorieren Sie seinen Tod. Er baut alles ein, lernt ständig. Ich hoffe bei Gott, dass Sie ein Kerl sind.« Anna kehrte zurück, und beim Geräusch ihrer Schritte krümmte Stieftaal sich wieder über den Teller. »Sie werden jetzt zu Bett gehen wollen«, sagte Anna. Sie klang fröhlich. Ich folgte ihr. Sie stieg, die Hand auf dem Lauf des Geländers, vor mir die dunkle Treppe hinauf, tastete oben nach dem Lichtschalter, öffnete mir in der Galerie eine Zimmertür. »Ich bringe Ihnen noch einen Pfefferminztee, aus frischer Minze, er wird Ihnen gut tun.«
    Das Bett in der Mitte des Raums, altertümlich mit Baldachin und Vorhängen versehen, der bereitgelegte Pyjama. Ein offenes Fenster und wehende Stores hätten dazu gepasst, aber die schweren, dunkelroten Portieren waren zugezogen, das Fenster dahinter vermutlich geschlossen. Ich trat in das Bad, fand dort Rasierzeug, Zahnpasta und Zahnbürste, ein Stück gelbe Seife, zwei himmelblaue Frottiertücher. Mir fielen die klobigen Chromarmaturen auf, wulstige Waschbeckenränder, WC mit Mahagonideckel, Wanne auf Löwenfüßen. Um den Spiegel Akanthusranken aus Bronze. Alles zu groß, aus Zeiten, in denen man Platz hatte. Wieder am Bett, auf dem gedrechselten Nachttischchen keine Bibel, doch Reepers Buch »Zurück zur Wirklichkeit«. Anna trat vom Gang in die Tür, hielt mir auf einem Tablett die Tasse Tee entgegen, ich roch den Pfefferminzduft aus meiner Kindheit. Erinnerung an kurze Krankheiten und an die Hände der Mutter. »Wollen Sie Ihren Tee nicht? Genießen Sie ihn. Er tut gut. Nichts ist besser für einen tiefen Schlaf. Bitte, kommen Sie her und nehmen Sie mir das Tablett ab!« Ich bewegte mich nicht. »Bitte spielen Sie nicht mit mir!« »Ich spiele nicht, Anna«, sagte ich und sah, wie ihr Kopf zu mir her zuckte, wo ich stand, in der Tür des Badezimmers. Ich sah sie wieder auf dem Gipfel des Berges in dem Boot, das sich wie eine Kompassnadel drehte. Sah wieder die Schwärze in ihren Augenhöhlen. Und endlich fand ich den Mut zu sagen: »Sie sind blind, Anna?« »Ja. Warum fragen Sie? Sie haben es doch geträumt.« Wie soll ich Ihnen den Augenblick beschreiben? Plötzlich war das Vertrauen zu der mageren Frau ebenso groß wie die Verstörung. Vielleicht ist es die Verbindung dieser beiden Gefühle, die wir Liebe nennen. Ich nahm das Tablett aus Annas Händen, stellte es auf den Nachttisch, blickte in das bleiche Gesicht unter dem Schirm roter Locken, die grünen Augen, etwas in mir begriff, dass Anna auf eine Geste des Einverständnisses wartete, ich ging auf sie zu und nahm sie in die Arme, sehr vorsichtig, wie man sich einem geahnten Fehler nähert. Sie schlug ihre Arme um mich, sie stieß hart mit der Stirn gegen meine Brust, mehrmals, zornig, dann entwand sie sich, lief aus der Tür, über den Gang, prallte ans Geländer, drehte sich und lief die Galerie entlang zur Treppe. Verschwand da. Ich schämte mich. Stand wie betäubt. Schloss dann die Tür.
    »Schweinrich!« hörte ich Szimenjicz rufen und rannte aus seinem Büro in das nächste, wo ich mich bei Liliane beschweren wollte. Aber sie lag als kleine Figur aus Eisen auf ihrem Schreibtisch. Jemand hatte ihr Rosen in die Augenhöhlen gesteckt. Ich wusste, dass ich hierher gekommen war, um die Handtasche zu finden, die Liliane verloren hatte. Die Handtasche lag neben mir, ich wollte eine Muschel aus ihr klauen, aber sie ließ sich nicht öffnen. Die Muschel war wichtig. Die Handtasche wuchs, ihr brauner Krokodillederbauch blähte sich. Ich riss ihren Boden auf. Die Sonne aus dem Taschen-loch blendete mich. Ich kniff die Augen zu. Ich lief durch das Haus. Es war leer. Ich lief hinaus und suchte die Wege ab. Ich war allein

Weitere Kostenlose Bücher