Die Nacht der Haendler
mit Mühe gefangen, auf dem Tischchen die von Stieftaal erwähnte Schlüssel-DVD vorgefunden, dann die Dachbodentür geöffnet, vergeblich nach einem Lichtschalter getastet. Durch Ritzen und winzige Löcher zwischen den Dachziegeln fiel gebündeltes Licht auf von Spinnen gewebte und vom Staub schwer gewordene Fetzen, stach herab auf das übliche Gerümpel einer lange vernachlässigten Geschichte. Strahlen und Dunkel, aus dem dann, als ich allmählich eingemeindet war in die Versammlung der alten Dinge, eine eigenartige Gesellschaft wuchs, die mir vorkam wie die Vorfahren des Dîners der Puppen unten im Speisesaal: Stehend, liegend, manche an einen Koffer gelehnt, schräg, zwischen Kisten auf die Seite gekippt, waren hier Büsten gelagert, aus Ton, aus Stein, aus Bronze oder Eisen. Der Staub auf Gesichtern und Schultern wie Schimmel. Spinnennetze kleideten die eine in eine zerfressene Toga, in einen Schleier die nächste. Andere lagen ganz eingewebt in einen Kokon. Und viele am Boden unter löchrigem Tuch, mit weißen Gelegen in den Augenhöhlen und abgekehrt, wie es schien, von den degenschmalen Lichtklingen, die ihren Hals trafen. Soviel erkannte ich jetzt: gemeinsam war allen dasselbe Gesicht. Hier hätte ich einhalten, umkehren sollen, lieber Freund. Liliane wäre vielleicht noch am Leben. Was aber treibt uns, was lenkt uns die Schritte? Ich bin ein gehorsamer Diener. Sir Dschejdschejs Anweisung, Stieftaals Befehl waren stärker als der Hinweis des gütigen Engels, der mich auf der Treppe hatte stolpern lassen. Die Tür zu dem abgeteilten größeren Teil des Dachbodens konnte ich leicht und lautlos öffnen. Was ich dort sah, ließ mich zweifeln, ob ich wirklich erwacht war oder mich in einer raffinierten Fortsetzung der Geschichte bewegte, die mein Traummeister mir suggerierte: ein elektronisches Großlabor. Computer. Bildschirme. Server. Scanner. Zusatzgeräte für Animation, Schnitt und Mischung jeder Art. Die Einzelteile verkoppelt zu einer gigantischen Digitalmaschine, einem Monstrum, das den Datenbauch nicht voll kriegen konnte und offenbar für einen einzigen Zweck konstruiert worden war: den toten Boris Reeper weiter leben zu lassen. Unterm Dach der Gedenkstätte des Großen Antimago hatte ich das Gegenteil seiner Ideologie gefunden.
Die Stimme klang hell, frech, selbstgewiss. Für einen Mann, der seit Jahrzehnten tot war und dessen Lebenssumme wahrlich keine Resurrektion rechtfertigte, sondern eindeutig auf den tiefsten Schlund der Hölle wies, eine verblüffende Leistung. Nun wollen wir, lieber Freund, dahingestellt sein lassen, ob das Leben über den Tod hinaus Gnade oder Verdammnis ist. Mit einiger Gewissheit aber darf ich von dieser Stimme behaupten, dass ihr Träger durch sein Dahinscheiden unbeeindruckt geblieben sein musste. Wie sonst hätte er, ohne den leisesten Anflug jenseitiger Vergeistigung, gleichsam wie von gestern auf heute, loslegen können, nicht mit Engelsgeduld, sondern ganz im Ton unserer selbstmitleidigen Gegenwart: »Du also bist mein Entdecker, der mich enttarnen, der meinen Mythos zerstören und mich in die tauben Stollen der Geschichte drängen will. Ich habe dich erwartet, kleine Ratte Zukunft. Deine Ankunft erfüllt mich eher mit grimmiger Befriedigung als mit Freude, denn dass meine eigenen Voraussagen eintreffen, spricht für meinen Pessimismus und gegen die Phantasie deiner Generation. Vermutlich hältst du dich für die neunmalklügere Krone des Fortschritts und mich für eine vertrottelte digitale Mumie. Wir werden sehen.« Ich – die »neunmalklügere Krone des Fortschritts« mit ausgeprägter Glatzenbildung, Spezialist für digitales Image-Faking und als solcher bei der Werbeagentur MAKE an der amerikanischen Westküste tätig, hier und jetzt im betulichen Europa auf Urlaub und trotz all meiner Bildbearbeitungskenntnisse überrascht von der Reaktionsfähigkeit Reepers – ich, die »kleine Ratte Zukunft« Heinrich Günz, 43, erschrak wie jeder, dem die gewohnte Ordnung der Zeit, die saubere Trennung von Leben und Tod zerstört wird. Mit der Schlüssel-DVD, die ich, wie von Stieftaal versprochen, auf dem Tisch neben der Speichertür vorgefunden hatte, und mit dem Passwort Fatalist hatte ich den Zentralrechner des vor mehr als zwei Jahrzehnten verstorbenen Antimago gebootet: ein veraltetes Großmodell der SelbstlernerSerie Quinta 204.4 mit acht externen Laufwerken zu je 50 Terabyte, photomagnetischer 2,2-Exabyte-Festplatte, WELT betitelt, und 800 Gigabyte Arbeitsspeicher
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