Die Nacht der Haendler
Stumpf, jenseits des Pfades liegt die Krone auf. So bildet er einen Winkel über dem Weg, ein Tor, das jederzeit einstürzen kann. Bin ich mit meinen Hunden hier, beschleunigen sie ihren Lauf oder weichen seitwärts aus, sie winden sich lieber durch das Gestrüpp der zusammengedrückten Baumkrone, als auf dem Pfad unter dem Stamm hindurchzulaufen. Ich kenne den Schauer, der mir über den Rücken läuft, wenn ich das unsichere Tor durchschreite. Anfangs lief ich schneller, bald lernte ich, mein gewohntes Tempo beizubehalten, und in den vergangenen Wochen bin ich schon mehrmals mitten unter dem Stamm stehen geblieben, habe mich gezwungen, das Tonnengewicht über mir genau zu betrachten. Ich habe Käfer und Ameisen entdeckt, die ihn als Brücke benutzen. Er hängt dem Anschein nach so labil an seinem gesplitterten Strunk, dass ihn das Gewicht eines Schmetterlings aus seiner Lage drücken und ihn auf den Pfad stürzen lassen könnte. Ich prüfe, wenn ich da stehe, den Tod. Er bricht mir das Genick. Er knickt mir die Wirbelsäule. Ich höre schon die Glocken von Dolcedo.
Langsam drehe ich mich unter dem Stamm und sehe ins nächste Tal hinunter, wo die alten Gärten verwildert, die Stützmauern der Terrassen zerfallen sind, wo das Gras hellgrün unter den dunklen Olivenbäumen leuchtet. Ein Schritt nur, und ich frage mich erneut: Wenn aber auch der Tod nur Teil eines jederzeit widerrufbaren Programms ist? Ich kann ja nicht bezweifeln, mein Freund, wie Sie die Realität ermessen – nämlich durch Ihre täglichen Gewinne und Verluste. Spüren Sie am Geld, was ich in der Todesgefahr suche? Ist denn das Geld für Sie ebenso real wie der Tod? Wenn das Meer, das ich jetzt von meiner Terrasse aus unter dem weißen Horizont liegen sehe wie einen Schal aus blauer Seide, frage ich Sie, ob dieser Blick meiner Augen nicht längst vorgeschrieben war von – nein, nicht auf einer Rolle, in der alle Schicksale verzeichnet sind, sondern von einem geschickten Holografiker. Es bedarf nur dieser scheinbar unbedeutenden Frage, um die Gesichter meiner Erinnerung, die mir am liebsten sind, ineinander stürzen zu lassen, Charisia in Anna, Anna in Liliane, Liliane in Charisia, alle ausgewaschen von der zitternden Luft, die gleichfalls programmiert ist, so wie meine Frage, ja! All meine Fragen an Sie: Teile eines virtuellen Verwirrspieles! Warum halte ich das nicht aus? Theologen leben mit der Gewissheit der Auferstehung, die jede Realität widerruft und lächerlich macht. Aber ich hänge im Gewebe meiner Zweifel wie ein Insekt in einem Spinnennetz. Wollen wir uns darauf einigen, dass ich nicht ich bin? Meine Erinnerung gibt es nicht . Es gab nie einen Antimago. So wie auch die Welt nicht da ist, die er zu retten vorgab. Alles bloß ein umfängliches, sich selbst fortentwickelndes Programm.
Um Giacco tut es mir leid. Ihn wünsche ich mir lebend und im Streit mit den Eidechsen. Und real wünsche ich mir seine Mutter, Signora Calise, deren Laden ich vor einer Stunde verlassen habe, mit meinen beiden schweren Leinentaschen, in denen ich zwei Flaschen Nebbiolo (ah! Der Geschmack des Weines! Ein Wirklichkeits-Anker, nicht wahr?), ein halbes Pfund jungen Parmigiano, drei weiße Brote, einen Ring Hartwurst, neun Eier in brauner Papiertüte, ein Pfund Butter (der Hunger! Auch nicht zu verachten als Maßstab der Realität!) zu meinem Häuschen herauftrug. Ich hoffe, Charisia wird mich heute Abend empfangen. Unserer Erfahrung nach tut uns gut, zwei, höchstens drei Nächte hintereinander zusammen zu verbringen, herrliche und schamlose Stunden Nähe, nach denen wir unabgesprochen wieder viele Tage, manchmal Wochen gehörigen Abstand halten, in denen wir uns grüßen, mehr nicht. Doch die Augenblicke der Lust: Nur in ihnen lebe ich ganz ohne Zweifel.
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JA, AUCH HIER konnten wir erfahren, was geschehen ist. Ich hoffe, Sie und Ihr Vermögen sind nicht allzu sehr betroffen. Sogar die Imperia brachte in einer breit dokumentierten Darstellung die »verschwundenen Milliarden«. Von Millionen redet schon keiner mehr. Die Insolvenzen überstürzen sich. Wir werden uns wohl auf Billionenverluste einstellen müssen. Und da die Wirtschaftsseite sonst nur mager mit Informationen, dafür reich mit Inseraten bestückt ist, fallen die Meldungen um so mehr auf. Sogar Giacco sprach davon, freilich nicht im Ton der Empörung, er klang eher begeistert. Für ihn ist das Kino, er lebt ja in Zehner-Einheiten. Seit Tagen versorgt er mich, weil ich mich kaum rühren kann. Wir
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