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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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– für heutige Verhältnisse also ein plumpes, uncharmantes Ding aus der Grundschule, für die Zeit seiner Programmierung jedoch eine außergewöhnlich fähige Maschine, wie sie sich seinerzeit allenfalls in Holografie-Studios oder Forschungszentren für Gentechnik, Meteorologie oder Astrophysik, nicht aber in Haushalten fand. Ich hatte sie nachsichtig lächelnd, dennoch mit Respekt vor der Geschichte gestartet. Vielleicht war ich auch nur davon beeindruckt, dass sie im Speicher eines weit über hundertjährigen Hauses stand, dass hier zwei Vergangenheiten aufeinander prallten und dass der Antimago überhaupt solche Geräte besessen hatte: All seinen Verkündungen zufolge handelte es sich dabei immerhin um die schlimmsten Ausgeburten des Teufels. Das Gefühl, etwas, wenn nicht Verbotenes, so doch zumindest Unerlaubtes zu tun, hatte ich noch mit Vergnügen in mir entdeckt: Die siebente Märchentür, der untersagte Zauberspruch, der Geist in der Flasche konnten mich nicht nachhaltig schrecken – es gehörte, wenn Sie sich erinnern, zu unserer männlichen Übung, dass man zwar durchaus zu registrieren verstand, was aus dem Unbewussten aufstieg, es dann aber entschieden und rücksichtslos beiseite schob, wenn man einfach keine Zeit zu haben meinte, sich darauf einzulassen. So hatte ich bis jetzt nicht immer glücklich, aber hinlänglich erfolgreich dreiundvierzig Jahre überlebt, und so hatte ich, den leichten Seegang meiner Seele glättend, nun das einzige auf dem 84-Zoll-Monitor angezeigte Dokument ausgewählt, das unter dem Namen REALITÄT offenbar mit einem Architekturprogramm erstellt worden war: Auf der dreidimensionalen Zeichnung im Maßstab 1:15 fügten sich vier spitz zulaufende Treppen zu einer Pyramide aus durchscheinend gezeichneten Quadern, die im Verhältnis zum realen Ganzen etwa die Größe von flachen Ziegelsteinen haben mochten. Die Quader trugen winzige Nummern, eine Vergrößerung der Bildstelle machte sie lesbar. Ihre Anzahl ging in die Tausende. In mehreren Schaltschritten hatte ich das Modell gekippt, gedreht und mich, wie ein Schlachter in den Bauch des Rindes, zum Zentrum vorgearbeitet, wo ich als innersten Baustein der Pyramide ein geschütztes Dokument mit dem Titel EGO vorfand, das ich mittels Cursor und Mausklick aktivierte, die Meldung, Änderungen würden nicht möglich sein, bestätigte, und es schließlich zur Ansicht öffnete. Sogleich hatte sich auf dem Bildschirm rotgelb das Gesicht eines Mannes gebläht, mit faserigem weißem Haar, blaugrünem Bartschatten und Grübchen in Lippenstiftlila, trotz seiner grellen Farben merkwürdig bleich und gedunsen. Es schien zunächst leblos zu sein, hatte aber bald durch Überlagerung und Zusammenfluss der Farbtöne ein fast natürliches Aussehen gewonnen und wie aus tiefem Schlaf die Augen geöffnet – frühlingsgrün leuchtete die Iris um die Pupillen, die sich langsam auf mich einrichteten. Dann hatte das Gesicht den Mund verzogen, seine offenbar verklebten Lippen voneinander gelöst und zu sprechen begonnen, mit einer Stimme, die sich aus den nachhallenden Räumen der Vergangenheit mit jedem Wort deutlicher in meinen Tag und Augenblick drängte: »Kennst du die dunklen Winkel der Welt, wo es nach Hefe riecht und wo die versunkenen Experimente gären – so lange, bis ihre Ausdünstung wiederkehrt? Nichts ist für ewig abgetan. Ich weiß, du willst meiner gescheiterten Idee jetzt auch noch das Letzte nehmen, was ihren Schatten ein wenig aufgehellt hatte: die bessere Moral und die Hoffnung auf eine glückliche Menschheit. Das ist so die Art der Nachwelt, die an ihren Wurzeln hackt. Erst habt ihr die Visionen durch Televisionen ersetzt. Und jetzt kommt nach der Vernichtung der letzten Utopie die Einsicht, es habe keinerlei Anlass für sie bestanden; aus Bosheit, Dummheit und Langeweile sei sie, wie alle anderen vor ihr, erdacht worden. Nun soll ich mit hinab in den Orkus des Fortschritts … Nur zu! Aber es wird dir schwer gemacht, ich habe alle Vorsorge getroffen, damit dir nicht gelingt, was du dir vorgenommen hast. Ich hoffe, du bist ein guter Verlierer. Ich bin auf Sieg programmiert und brauche kein Mitleid. Nur keine Gnade der Lebendigen für die Toten!« Derart aus der sechsteiligen Boxenreihe über dem Monitor beschimpft, hatte ich das verbotene Siebente Zimmer meiner Kindheitsseele bereits betreten. Aber noch stand ich gleichsam mit dem Rücken zur offenen Tür. Ich wusste es: ich hätte nur einen Schritt hinter mich treten, ich hätte

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