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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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nur mit einem Schaltschritt das Dokumentfenster schließen müssen und mich meinem sicheren Leben wieder in Bescheidenheit zuwenden können. Doch in diesem kaum messbaren Augenblick verbündete sich – ganz, wie es jene vorgesehen hatten, die mich in die Lage gelenkt hatten, in der ich mich nun befand – die Stimme des Toten mit meinem Anspruch auf Selbstbeherrschung und fuhr ungehindert fort: »Euer Eifer, mit dem ihr euch über uns Vergangene hermacht, der maßlose Zerstörungsfleiss eurer Gegenwart wird nicht zulassen, dass du mich schonst. Dazu sind meine Verbrechen wohl auch zu abscheulich, obwohl ihr nicht weniger unmoralisch seid, als wir es waren. Nichts befriedigt euch so sehr wie der nachträgliche Verrat einer Utopie, mit der ihr selbst gescheitert seid. So wirkt ihr klug und könnt den Rhythmus des eigenen Lebens stets der Gegenwart angleichen. Aber ich werde dich in die Irre führen, dir einen boshaften Vergil spielen und dich auf grässliche Wege locken, in Labyrinthe, aus denen dir keine Ariadne helfen wird. Wir beide werden viel Spaß haben. Zumindest ich. Vergiss nicht, ich habe einen großen Vorteil dir gegenüber: Ich fürchte nicht um mein Leben – weil ich es nicht mehr besitze. Für dich aber könnte das Spiel tödlich ausgehen, während ich um viele Informationen reicher in dieser Maschine weiterexistieren werde in alle Ewigkeit.« Jetzt erst zuckte aus meinen frühen Erinnerungen unüberwindlich das Gefühl, ertappt zu sein, hoch, und ich erteilte, als könne dies mich und uns jetzt noch vor der Ihnen zu berichtenden Geschichte von Boris Reepers Rettung der Welt bewahren, den QUIT -Befehl zur Beendigung des Programms: Das Gesicht des Toten schrumpfte, beleidigt, wie mir schien, zurück ins Zentrum der Treppenpyramide und verblich. Der ganze gestufte Aufbau sauste in die Tiefe des Bildschirms, kreiste, zum Wirbel verdichtet, auf das Festplatten-Symbol WELT zu und stürzte hinein. Auf heller Kobaltbläue wies der Monitor nur noch die Zeichen der acht seriell geschalteten optischen Laufwerke und der Sicherungsebene auf, die sich, ihrer IP-Adresse nach, vermutlich auf einem Server in Zürich befand.
    Zu meinem Entsetzen befreite dieser Vorgang mich jedoch nicht von der Stimme des verdunsteten Gesichts. Unbeeindruckt davon, dass sein Programm soeben geschlossen worden war, fuhr der lebendige Tote in seiner Rede aus den Lautsprechern fort: »Ich kenne deine Vorwürfe auswendig. Immer wieder nur die Frage nach der Gewalt und nach La Terreur . Aber war nicht alles Große auch im Vernichten groß? Stößt nicht jede Idee, die Platz braucht, eine oder, je nach ihrer eigenen Ausdehnung, viele andere über den Tellerrand? Die aber keinen Platz braucht, wäre die groß? Du musst mir nicht antworten, Heinrich, du bist verwirrt, ich weiß. Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet seit meinem Tod. Und doch überrascht mich, dass ich jetzt ausgerechnet von einem Ungläubigen aktiviert und historisch erledigt werden soll. Denn ein solcher bist du gewiss, Heinrich, sonst hättest du längst aus Pietät vor diesem Bildschirm und vor meinem Gesicht darauf Haltung angenommen, irgendeine hochachtungsvolle, stramme oder betende. Aber wie meine postmortalen Augen mir melden, lümmelst du dich in meinem alten Lehnsessel, als sei er dir angemessen. Sic transit gloria mundi …« Hier hatte ich, weil die Erwähnung meines Namens durch den Toten mir wie ein Eiszapfen ins Herz stach, auf den Ausschalter geschlagen und die Warnschrift UNGESICHERTE DATEN WERDEN VERLORENGEHEN durch ENTER bestätigt. Stimme und Bläue verschwanden zugleich, ohne dass ich mich erleichtert gefühlt hätte. Ich spürte, dass mir der Schweiß auf die Stirn trat, und starrte den schwarzen Monitor an wie ein erlegtes Tier, das sich möglicherweise noch einmal aufbäumen und mich anfallen könnte.
    Wusste ich nicht sofort, wie recht ich mit dieser Befürchtung hatte? Im selben Augenblick nämlich, in dem ich mich durch den Schlag auf den Schalter befreit zu haben meinte, jagte, von Satelliten angenommen und wieder zur Erde gesendet, eine Nachricht auf zwei weit entfernt stehende Monitore zu und leuchtete dort Sekunden später mit jener unerbittlichen Präzision, von der inzwischen das Überleben unserer Gattung abhängt, mitten in fremden Arbeitsprogrammen auf: von einem goldenen Rechteck umrahmt die Schrift ETERNITY INVADER. NO PERMIT . Dazu ein Klang, der zwischen Harmonie und Disharmonie irisierte: ein Tritonus, auch Teufelston genannt.

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