Die Nacht der Haendler
Caldera erheben sich fünf jüngere Vulkane, von denen einer bis heute tätig ist: der eintausendfünfhundert Meter hohe Nakadake, zu dessen nördlichem Rand sich eine schmale Straße von der Grasebene heraufwindet. Wie im vorigen Jahrhundert ziehen auf ihr gegen Mittag die uniformierten Schüler hinter ihren mit Fähnchen und Megaphon bewehrten Lehrern im Gänsemarsch zum Krater. An der gegenüberliegenden Flanke führte von Südosten her bis zwei Jahre vor der Jahrtausendwende eine öffentlich zugängliche Seilbahn zu einer Station nur wenige hundert Meter unterhalb des Kraterrandes. Von ihr konnte man zu Fuß weiter hinauf bis zu den Schrunden und Wülsten der Lava gelangen, hinter denen die giftigen Wolken braun und weiß aus dem Bauch der Erde fauchen und dann und wann Gasblasen aus dem verschlammten Schlund aufsteigen wie Rülpser eines Riesen. Hier ist die Einsicht in den Krater weniger spektakulär als auf der gegenüberliegenden Seite, der Rand schmaler, der Standpunkt nicht ohne Risiko. So blieben die Touristen hier aus. Die Bahn lohnte den Erhalt nicht, rostete, die Stationsgebäude am unteren und oberen Ende des Seils verfielen, Schwefeldämpfe fraßen am Zement, und endlich wurde die Strecke für Besucher geschlossen. Seit wie vielen Jahren im Gipfelgebäude der Bahn der Vulkanologe Jatsu Tsin haust, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls hat er sich zwischen verrottetem Beton und ausgeschlagenen Fenstern mit seinen Forschungsgeräten gut eingerichtet und es verstanden, durch die beharrliche Übermittlung von seismischen Messergebnissen schließlich von der nationalen Erdbebenbehörde in Tokio wahrgenommen und nach einer Überprüfung durch den Inselrat in Nagasaki als offizieller Wächter eingestellt zu werden. Man beließ ihm Strom, Wasser und den Telefonanschluss der Seilbahngesellschaft und genehmigte ihm ein ausreichendes Gehalt. Beamtet wurde er aufgrund seines Vorlebens nicht. In der ehemaligen Besuchertoilette für Frauen hat er sich eine Dusche installiert, in der für Männer eine kleine Küche. Sein handwerkliches Geschick erlaubt es ihm, die Seilbahn für eigene Zwecke notdürftig in Gang zu halten, so dass der Transport von Nahrungsmitteln, Getränken, Gasflaschen, die ihm von einem jungen Mann an die untere Station geliefert werden, gesichert ist. In seinem ehrwürdigen Alter von 74 Jahren hätte er ohne diese Hilfe wohl kaum überlebt. Jatsu Tsin: Nur den Älteren unter uns treten bei seinem Namen noch Bilder vor Augen, seine kurze, fette Gestalt mit dem konkave Gesicht mit der kleinen Nase und dem schwarzen Busch auf dem Kopf. Inzwischen trägt er die weißen Haare lang nach hinten, und die einst speckglatten Wangen haben sich in eine Faltenlandschaft verwandelt, als hätten die aufgeworfenen Ränder, die Furchen und erkalteten Lavaflüsse des Nakadake sich in ihnen abgebildet. In Nagasaki auf Kyushu hatte man ihm seinerzeit den Prozess gemacht, dem angeblichen »Yakuza«, dem aber keine Beteiligung an auch nur einem der ihm zur Last gelegten Morde im Auftrag der japanischen Mafia nachzuweisen war. Zu den Verhandlungen war er fast nackt erschienen, gegürtet nur mit der Schärpe der Sumo-Ringer. Dass er mit den Antimagisten in Japan zu tun hatte, hielt das Gericht für Tarnung – tatsächlich aber hatte sich der Antimagist mit seinen Kontakten zu den Yakuza-Clans getarnt. Jatsu Tsin war der kälteste Fanatiker im engen Kreis des Antimago gewesen, der Mann im Hohen Tribunal, der für den Fortschritt jeden Terror in Kauf nahm – und ausübte. Als ihm aber der Staatsanwalt nicht nachweisen konnte, dass Tsin das Verwaltungsgebäude des Fujitsu-Konzerns im Tokyoter Stadtteil Shibuya durch sechs Sprengladungen von jeweils siebenhundert Kilogramm nach zwei Wochen fachgerechter und listiger Vorbereitung endlich erfolgreich von der Höhe seiner achtundneunzig silberglänzenden Stockwerke zu einem qualmenden Haufen Schutt erniedrigt hatte, unter dem zehn Wachmänner sowie der Leiter der Abteilung Virtual Reality , Koichi Myawaki, tot lagen (wer außer Tsin hätte eine solche Tat eigentlich planen und vollbringen können?), war der Freispruch absehbar. Der Staatsanwalt hatte damals ohne stichhaltige Beweise lebenslänglich gefordert und in seiner Not die japanische Presse mobilisiert, die einen Tag vor dem Richterspruch mit der Behauptung erschien, Jatsu Tsin sei kein Japaner, sondern Koreaner und schon darum ein Mörder. Dies gab vermutlich den Ausschlag: Das Gericht in Nagasaki, hoch
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