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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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empfindlich gegen jede Form von Rassismus, ließ ihn laufen, aus Mangel an Beweisen. So hatte der Staatsanwalt selbst den Freispruch bewirkt. Er soll sich das Schwert gegeben haben. Jatsu Tsin verschwand nach Europa, wurde in Falling gesehen und kehrte nach dem Tod des Antimago nach Kyushu zurück, in die Caldera des Aso, schlug ein Zelt am äußeren Kraterrand des Nakadake auf, schien, wann immer ein Wanderer sich ihm auf dem Aschenboden näherte, zu beten oder zu meditieren oder auch nur die gelben und roten Adern zu betrachten, die sich durch die lilagrauen Auswürfe des Vulkans zogen. Manche sahen ihn hinüberstarren zu den Schulklassen und Touristen am nördlichen Kraterrand, mit einem, wie sie sagten, hasserfüllten Blick. Kaum war die Seilbahn stillgelegt, zog Tsin in das Gipfelgebäude um, lernte den Nakadake durch Beobachtung besser kennen als jeder andere und erwarb sich mit seinem Wissen schließlich das Vertrauen der Behörden, dann eine wachsende Ausrüstung von Messgeräten, Computern zur Auswertung, schließlich umgab ihn in der Presse der Ruf des Geläuterten, der sich vorgenommen habe, der Nation zu dienen. Er wusste, dass die Menschen seines Landes mit der Furcht vor dem »Katzenfisch« geboren werden, der »unter dem japanischen Archipel liegt und mit dem Schwanz peitscht, bis die Erde bebt und die Gipfel der Berge platzen«. Jatsu Tsin war ein Experte der Angst. In der Nacht der Nachricht erwachte er auf seinem Futon unter doppelt gelegten schwarzen Kuhfelldecken mitten im ehemaligen Warteraum der Station. Er fror. Wolken zogen um das Haus, Schwaden feiner Tropfen wehten durch die Fensterhöhlen herein, vermischt mit den Dämpfen des Vulkans. Das dumpfe Vibrieren im Boden war nicht stärker als sonst. Als unter der Plastikplane, die er über die Geräte gebreitet hatte, plötzlich das blaue Licht eines der Monitore aufgeflackert war, zugleich mit einem Ton, der Jatsu Tsin scheußlich in den Ohren klang, jenem Tritonus, den er kannte, wusste er einen Augenblick lang nicht, ob er von Falling träumte, vom Haus seines toten Meisters Boris Reeper. Aber dann genügte ihm der Blick aus einem geöffneten Auge: Die Nachricht, die ihn und seinen Computer geweckt hatte, hatte höchste Priorität. Tsin wälzte sich auf die linke Seite, dann wieder auf die rechte, rollte auf den Rücken, zog die Knie zur Brust, streckte sich, legte die Arme seitwärts aus, klappte sie gestreckt hoch und schlug die Handflächen zusammen, hob nun seinen Oberkörper, ließ ihn wieder nach hinten fallen, drehte sich auf den Bauch, stützte sich mit beiden Händen auf, hob seinen bis zu den Fußzehen gespannten Körper, wippte, zog im Schwung die Beine unter den Körper, kniete, hob sein Gesicht und atmete in heftigen, tiefen Stößen zehn Mal, so schnell es sein schmerzender Brustkorb zuließ. Dann sank er vornüber, stützte sich mit der Stirn auf das Kleiekissen und wartete darauf, dass er erwachen würde. Er spürte das Blut in seinen Schädel fließen, das Pochen vermischte sich mit den unregelmäßigen Donnerschlägen aus dem Innern des Nakadake, Gesichter erschienen, Namen, eine Frau vor dem Buddha von Kamakura, die ihre Videokamera mit beiden Händen vor die Brust gepresst hielt und nach ihren Kindern schrie, als wäre deren Leben in der Kamera verborgen. Dann sah er den Fallinger See, »Lucia, Elisabeth«, sagte er, richtete sich auf und stand. Jedes Gelenk tat ihm weh. Er ging zu dem Geräteberg, zog die nasse Plane herunter und las die goldumrandete Schrift auf dem Monitor: ETERNITY INVADER. NO PERMIT . Es war zwei Uhr nachts. Jatsu Tsin dachte sehnsüchtig an die heißen Quellen von Beppu an der Ostküste Kyushus, den vulkanischen Sand, an die warmen Seifenbäder, die Mädchen. Er zitterte vor Kälte. Er nahm eines der Kuhfelle von seinem Bett, warf es sich um die Schultern, schaltete die Deckenleuchten ein, schlurfte zum Ausgang der Station und tastete sich durch den nächtlichen Nebel die Stufen der Eisentreppe zum Vorplatz hinunter. Der Weg war ihm auch in der Schwärze vertraut. Durch die Schwaden schob sich seine Gestalt in dem schwappenden Umhang bergan bis zum äußersten Standpunkt am Kraterrand. Dort setzte er sich und wartete. Nach Stunden hob sich eine Schicht Grau aus dem Schwarz über dem östlichen Rand des Vulkans. Dann nahmen die Schwaden aus der Tiefe das geringe Morgenlicht auf, und Jatsu Tsin begrüßte sie wie vertraute Geister. »Füchsinnen!« sagte er leise, »schöne befiederte Brüste!« Es

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