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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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fing an zu regnen. Jatsu sagte vor sich hin: »lwanu ga kana« – Schweigen ist Blume. Noch war er nicht wach, nicht aufmerksam genug. Er schlug sich mit der rechten Hand ins Gesicht. Das Licht stieg. Aber die Sonne drang nur als diffuser heller Fleck durch Nebel und Regen. Der Vulkan rülpste, und Jatsu Tsin, der Greis, der am Rand hockte, als sei er versteinert, hielt vergeblich Ausschau nach der Sonnenscheibe im Nebel, und er lauschte den Stimmen aus dem Erdinnern. Noch einmal töten, dachte er. Als notwendige Folge richtiger Einsichten. Noch einmal ein Grab, noch einmal der »Schatten des Grases«. Noch einmal Pflicht. Und keine Ruhe. Unter Schmerzen stand er auf. Zog sich das Kuhfell dicht um die Schultern, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar, dessen längste Strähnen im Nacken den Umhang berührten.
    »Nakadake«, sagte er, »meine Ruhe, mein Vater Ich verlasse deine gnädige Wut. Dein Mund, mein Vater misst siebenhundert Schritte in der Öffnung und zweihundert Schritte bis zum Schlund. Dein Alter misst die Strecke hunderttausender Vorfahren. Und doch bist du nicht fähig, mir zu sagen, dass ich bleiben soll. Mein Mund ist unwürdig klein. Und doch sagt er: Ich verlasse dich, mein Vater. Und ich habe nur einen Hüpfer von vierundsiebzig Jahren getan. Daran sieht man, dass die Welt in Unordnung ist. Das Kleine hat ungebührliche Macht.« Nach dieser Litanei stolperte er auf dem Bergpfad, dessen Betonstufen aus dem vorigen Jahrhundert längst von Lavarinnsalen übergossen, von Aschenplatten und steinernen Adern überwölbt waren, zurück zur Station. Mehrmals hielt er inne und horchte. Aber der Vater stieß nicht, wie Jatsu Tsin hoffte, »glühenden Zorn« aus. Der Nakadake schien damit einverstanden zu sein, dass sein selbsternannter Sohn Abschied nehmen und einen Fremden töten würde. In der Station warf Jatsu den nassschweren Kuhpelz ab und setzte sich vor den Computer. Die Nachricht war verschwunden. Er hätte sie gern aus seinem Kopf gewischt, er hätte sich gern aus der Pflicht entlassen, ihr Gebot zu befolgen. Aber der Nakadake hatte geschwiegen. Es gab keinen Zweifel, keine Chance mehr, dem Auftrag des Antimago zu entkommen, und Jatsu Tsin spürte, wie sich langsam seine eigene, weit zurückliegende Geschichte wieder zur Gegenwart wandelte: Die Löschung der Scheinwelt war für ihn noch immer das wichtigste Erlösungsprojekt der Menschheit, und er sehnte sich danach, sie noch zu erleben. Wer immer jetzt in das Eternity-Programm eingedrungen war, um die Erlösung zu sabotieren – er würde ihn töten. Er schaltete sich in die Buchungsliste des Tokyoter Flughafens Narita ein und markierte seinen Platz in der nächsten freien Maschine der Swiss , der letzten Nationallinie nach Europa. Eurair , Amair und Asair verachtete er. Neunter Tag ab jetzt, kam das Angebot, einschließlich Security Check. Ob er auszuwandern wünsche? No. Ob er im Zielland einzuwandern wünsche? No. Ob er terroristische Anschläge vorhabe oder als Geldfälscher tätig werden wolle? No. Das war gelogen. Ob er vorbestraft sei. No. Das war fast gelogen. Ob er gegen die europäischen Seuchen geimpft sei, insbesondere gegen die gegen antibiotikaresistente Tuberkulose? Yes. Das war gleichfalls gelogen. Das System verzichtete auf die Anfrage nach seiner Impfkategorie und -nummer. Er klickte im Innenbild des angebotenen Clippers seinen gewünschten Sitz an, gab seine Kreditnummer ein und wartete auf das D’accord. Als es mit den üblichen Takten der Tell-Ouvertüre erfolgte, gab er sein Confirm und seine Compnummer ein und wartete. Wie vorauszusehen war, meldete sich der Automat der Erdbebenbehörde. Für die Ausreise müsse er sich abmelden. Er meldete sich ab. Wie lange? Neun Tage. Staatswichtiger Geologen-Kongress in Genf. Blanker Schirm. Dann die Behörde: Nehmen Nobelpreisträger teil? Tsin gab auf gut Glück ein: Sieben. Wer zum Beispiel? Jatsu dachte an Jens Jakob von Tonnda. Er wählte das eigene Adressenregister an und decodierte es. Unter Tonnda stand neben anderen »Freund: Cecil W. Brodsky, Nobelprize Physics«. Er kopierte den Namen und gab ihn an die Behörde weiter. Das System arbeitete. Dann erschien die Meldung mit seiner Ausreisenummer und dem Auftrag, Brodsky zu kontaktieren und anschließend ein Gesprächsprotokoll zu verfassen. Er verpflichtete sich, gab seine Ausreisenummer an Swiss durch, und deren Programm signalisierte PERFECT . So umständlich und mehrfach beweisbar waren die Vorbereitungen eines geplanten

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