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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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zu werden wie von ihrem geschäftigen Mann. Bevor sie sich ankleidet, bürstet sie ihr strohblond gefärbtes Haar, das bis auf ihre Schultern reicht, bindet und flicht es dann zu einem dicken Zopf, den sie als ringförmige Krone zu winden weiß. Man liebt ja jetzt in ganz Europa diese Frisuren aus dem Deutschland der dreißiger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Erst wenn ihr die Haarkunst gelungen ist, an deren Verfertigung ich vor allem die gehobenen Arme Carmens genieße, bekleidet sie sich. Ich finde das bemerkenswert – denn ich kenne von anderen Frauen nur die umgekehrte Reihenfolge. Für jeden Arztbesuch schmückt sich Frau Weihrich wie eine Braut. Ich vermute, die Begegnungen mit einfühlsamen Ärzten sind die einzigen glücklichen Augenblicke, die ihr geblieben sind. Wie kompliziert für ihre Seele, immer wieder Leiden zu finden, die eine medizinische Begutachtung rechtfertigen, ja sogar erzwingen, und doch lind genug sind, um sich nicht wirklich bedrohlich oder gar abstoßend zu entwickeln! Gewiss täte ihr gut, wenn der eifrige Klaus-Peter an ihrer Seite ein wenig Eifersucht zeigte. Er aber hat sich zurückgezogen auf ein paar Formeln der Besorgnis und des Trostes und nimmt die italischen Medizinvergnügungen seiner Frau unverdrossen hin, chauffiert die Braut durch die verrotteten Städte an der Küste, hinauf zu den mittelalterlichen Burgdörfern, wartet vor Kliniken und Hexenhäusern in seinem neuen Opel. Wartet nur. Liest nicht. Schläft nicht. Flucht nicht vor sich hin. Ärzte, so mag er sich entschieden haben, sind keine Männer. So weiß er seine Ehe ungefährdet, doch er weiß wohl nicht mehr, wozu. Noch sind beide aber nicht in einem Alter, in dem alle weitreichenden Träume dem Augenblick weichen. Sie scheinen nur sehnsüchtig auf diese Jahre zu warten. Die Abendeinladungen bei ihnen, zwei pro Urlaub sind unvermeidlich, gehören zu den langweiligsten meines Lebens. Ich habe Sie mit meinen Nachbarn, die nach zuverlässigem Ritual jährlich im Frühling und im Spätsommer für einige Wochen ihr Haus beziehen und es in der Zwischenzeit nicht vermieten (»man hat ja doch seine eigenen Vorstellungen von Sauberkeit«, sagt Klaus-Peter) bekannt gemacht, weil die Weihrichs für mich wichtige Garanten der Normalität sind. Ich bedarf ihrer berechenbaren Gegenwart. Solange sich bei Weihrichs keine auffälligen Änderungen einstellen, können die allgemeinen Verhältnisse nicht aus dem Lot sein. Und dass beide den gaunerhaften italienischen Neofaschismus dem brutalen deutschen und dem verlogenen französischen vorziehen, macht sie mir sympathisch. Aber das beste an ihnen ist ihr verlässlicher Mangel an Überraschungen.
    Sie hingegen, mein Freund, werden mich, wenn ich die ein wenig kryptischen Ankündigungen ihres jüngsten Briefes richtig verstehe, demnächst einer überraschenden Nachricht würdigen, die »von hoher politischer Bedeutung ist«. Ich vermute, sie hat mit den jüngsten Wahlen in Ihrer Heimat zu tun. Bevor Sie sich festlegen – aber wer bin ich, dass ich Ihnen raten dürfte, meine Welt ist beschränkt, Ihre hingegen ohne Ränder – bitte ich Sie, zu bedenken, wie mein Eingreifen in das Überlebensprogramm des Antimago blitzartig zu Reflexen in anderen Weltgegenden führte. Ich beschrieb Ihnen ja, was J.
    J. von Tonnda, alias Sir Dschejdschej, daraus für sich folgerte. Doch war er nicht der Einzige, den der tote Reeper zu Hilfe rief. Dschejdschej hatte sich ja eigentlich längst losgesagt.
    Der zweite Empfänger der Nachricht befand sich in einer unvergleichbaren Lage. Auch hier war ich mit all meinen Sinnen anwesend, obwohl mein Körper unverändert im Speicher des Fallinger Hauses saß und meine Augen auf den schwarzen Bildschirm starrten. Ausgelöst von mir in Falling um 17.51 Uhr, erreichte die Meldung Jens Jakob von Tonnda bereits neun Stunden früher um 8.52 Uhr desselben Tages in Malibu/L. A., den zweiten Empfänger aber acht Stunden später, in der Nacht des folgenden Tags um 1.51 Uhr auf der zum japanischen Archipel gehörenden Insel Kyushu. Es ist für uns nicht ganz leicht, uns nun dort zurechtzufinden; der Empfänger wohnt an einem ungewöhnlichen Ort: Im nördlichen Teil der Insel liegt die zweihundertfünfundfünfzig Quadratkilometer große Caldera des Urvulkans Aso, dessen Milliarden Jahre alter Kraterrand als kreisrundes Gebirge die blinkenden Reisfelder und Städte im Innern und die wie weiße Federn über dem Boden stehenden Dampfsäulen einschließt. In der Mitte der

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