Die Nacht der Haendler
Mordes an einem Mann, den Jatsu Tsin nicht kannte und den zu töten er keinen persönlichen Anlass hatte: einen Image-Faker der amerikanischen Ad-Industries namens Heinrich Günz, deutscher Abkunft, und bis zur beabsichtigten Begegnung ein für Jatsu Tsin uninteressantes Leben. Meines. Aber ich, verstehen Sie, mein Freund, wusste , dass er kommen würde. Ich hatte sein Erwachen gesehen. Der Mörder war müde. Er schaltete seine zentrale Festplatte auf SLEEP und stieg in den ersten Stock der Seilbahnstation. Dort, auf der Plattform neben der Kabine, einem verrosteten, scheibenlosen Käfig, der träge im Morgenwind pendelte und an die Holzplanken der Einfahrtsschleuse schlug, zog Jatsu Tsin unter halb offenen, schiefen Kartons einen kleinen abgeschabten Lederkoffer hervor. Der Gefährte für kurze Reisen war schwer. Das Instrument darin, nicht Schwert, nicht Dolch, nicht Machete, aber von allem etwas, stak in einem mit Blei beschlagenen Holzköcher und gehörte zu den liebsten Dingen, die Jatsu hatte. Er nannte es »Kleine Heimat«. Oder auch »Kindchen«. Manchmal »Zukunft«. Unter den Lampen glänzte die Klinge wie Wasser. Jatsu Tsin strich mit den Fingerkuppen über die Flanke, spuckte darauf, als er Flecken zu sehen meinte. »Schneide in mein Gedächtnis, bis es blutet«, sagte er. Dem Metall galt sein Liebe, galt sein Fluch, sein Gebet.
Noch immer saß ich vor dem Zentralrechner des Antimago. Ich versuchte, an nichts zu denken. Ich blickte zur verglasten Giebelwand des Speichers hinaus auf die Silhouetten der Baumkronen. Mein Wunsch zu flüchten und mein Wunsch zu bestehen, blockierten sich gegenseitig. Ich fühlte mich bewegungsunfähig wie in einem Kokon, in den mich die Worte des Antimago eingesponnen hatten. Das Fenster, dessen Spitze sich bis unters Dach hochzog und dessen Grundlinie mit dem Holzboden abschloss, war von Spinnengeweben und vom Staub der Jahrzehnte getrübt. Das Gewirr der Schatten vor dem bleichen Nachmittagshimmel ließ sich als Geäst nur von einem erkennen, der, wie ich, wusste , dass auf dieser Seite, Nordwesten, alte Buchen bis zum First des Hauses reichten. Lilianes künstlerischer Grundsatz fiel mir ein: »Alles existiert, weil wir behaupten , dass es existiert.« Warum gerade sie mir einfiel, die »Kopfmalerin«, die Geliebte, die Gattin? Warum in diesem Augenblick meine Erinnerung mir die einzig Rettende und mit ihr die einzige unbezweifelbare Wirklichkeit heraufsandte, Haut, Blick, Mund und Hände von Liliane – das wusste ich nicht. Ich versuchte, den Gedanken an sie sofort loszuwerden, ich wollte Liliane nicht in dieses Abenteuer hineinziehen. Ich stieß mich mit den Füßen vom Sockel der Computereinheit ab, der Lehnstuhl quietschte auf seinen Kugelfüßen über die Bohlen, gewann Abstand, saß in einer Bodenrille fest.
Ich streckte meinen rechten Zeigefinger gegen den Bildschirm und rief: »Sie können meinen Namen nicht wissen.
Wir sind uns nie begegnet. Hören Sie, Reeper, Sie sind tot, zwanzig Jahre tot, so tot wie Ihre Idee, so tot wie Ihre irren Gefolgsleute, Sie sind vergangen, vergessen, zerkrümelt, Staub, Reeper, ein Furz der Geschichte, ausgestunken, verweht, von wegen Utopien, spielen Sie nicht den potemkinschen Hanswurst und halten Sie Ihr Maul!« Boris Reeper aber, der Große Antimago, den ich für tot erklärte und doch anredete wie einen Lebendigen, ruhte da längst wieder zerteilt in Trillionen Bytes tief im Programm der Treppe REALITÄT auf der Festplatte WELT oder auf den Laufwerken UNIVERSUM EINS bis UNIVERSUM ACHT
– und niemand hätte sagen können, ob er dort tatsächlich als inaktive Information vorlag oder nicht doch noch wahrnahm, wie ich mich ängstigte, und sich diese Wahrnehmung sofort einverleibte, sie mit all seinen bereits gespeicherten Erfahrungen vernetzte, diese korrigierte, ergänzte, auf den neuesten Stand brachte und sich mittels solcher Gefräßigkeit frech, unaufhaltsam und unersättlich aus der Vergangenheit in die Gegenwart erhob. Jetzt erst fiel mir ein, wo ich sein Gesicht, das sich aus der Mitte der Pyramide entwickeln und in sie zurückziehen konnte, kurz zuvor gesehen hatte: Es war das Gesicht all der Büsten, die vor der Tür des Rechenzentrums im Gerümpel des Speichers lagen wie die tönerne Armee eines chinesischen Kaisers. Der Zerstörer der Bilder hatte sich abbilden lassen, immer und immer wieder, und, wie es schien, ohne je zufrieden zu sein.
9
ACH, MEIN LIEBER, ich weiß nicht, ob ich weinen, lachen, Sie
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