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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Grau gefüllt war, aus dem sich langsam ein Schwarzweißbild entwickelte: Ich sah Pflaster und Sandsteinbrüstung, rechts und links die Silhouetten der großen Figuren, die Reihe der Schutzheiligen und Patrone im Wechsel mit alten Laternen, im Hintergrund ragte das steile Trapezdach des Kleinseitner Brückenturms, von ihm halb verdeckt die Kuppel der St. Nikolaikirche aus dem Dunst. »Die Karlsbrücke in Prag«, sagte ich leise, Reeper kicherte, voller Menschen war die Brücke, Massen, die sich nun in Bewegung setzten, gegenläufige Ströme, und ich erkannte nicht nur den Ort, ich meinte auch den Tag zu kennen, an dem diese Aufnahmen gemacht worden waren. Ich weiß es wie heute.
    Das Bild hebt und senkt sich leicht in ruhigem Rhythmus, die Kamera scheint zu leben. Jetzt bewegt sich ihr Träger nach vorn, das Bild wippt mit den Schritten, nach rechts und links teilt eine Gruppe japanischer Männer sich auf, sie werden über die Ränder hinausgeschoben, Stände mit Zigarettenstangen, Aquarellen, Silberschmuck, Gürteln und Taschen rutschen vorbei. Mit einem Ruck steht die Kamera wieder, und wie in ruhiger See steigt und sinkt das Bild, als wäre das Auge, das all dies sieht, angeheftet auf der Brust eines Beobachters und dem Rhythmus seines Atems unterworfen. Aus der Menschenmenge greift sich das Objektiv jetzt ein Paar. Zoomt Liliane heran. Mich selbst an ihrer Seite. Kein Zweifel, hier auf dem Speicher des Hauses in Falling begegne ich mir selbst und gehe auf mich zu, ohne zu bemerken, dass ich von mir gesehen werde, den Arm um Lilianes Schultern, lächelnd, anscheinend glücklich. Und Liliane deutet auf eine der Sandsteinfiguren, die heilige Luitgard unter dem Gekreuzigten. Dann wachsen wir beide rechts aus dem Bild heraus.
    Ich weiß, was nun kommt. Die weißen Transparente, die schwarz vermummten Antimagisten, die damals die Brücke gestürmt und beidseits gesperrt hatten. Der Überfall mit vorgehaltenen Waffen auf die Menge der Touristen, denen sämtlich die Fotoapparate und Videokameras aus den Händen gerissen, aus den Taschen geklaubt, vom Hals gezerrt wurden, Tumult, Angstgeschrei, Rufe nach Polizei – doch bis die eintraf, waren die Antimagisten verschwunden, und alle Kameras ruhten am Grunde der Moldau. Zurück blieben weinende, fluchende, verängstigt schweigende Touristen aus vieler Herren Länder und die Transparente mit blutroter Schrift in sieben Sprachen: »Rettet die Wirklichkeit – Zerstört die Bilder!« war am einen Ende der Brücke zu lesen, »Antimagismus – Die Hoffnung der Welt« am anderen. Herr Finanzminister, erinnern Sie sich? Hier in Prag werden wir drei uns nun begegnen. Sie waren jung und unbedeutend wie ich, und ich spüre jetzt, wie sich mit meiner Verehrung für Sie mein Hass verbindet. Wussten Sie, dass Sie die Liebe zerstörten? Ich blicke über die Olivengärten und die Dörfer zum Meer und frage mich, ob ich Ihnen, da Sie ja durch Ihre gegenwärtigen Aufgaben bis an den Rand Ihrer Kräfte belastet sind, erlassen sollte, sich an Prag zu erinnern. Ob ich schweigen sollte von Liliane und mir – und Liliane und Ihnen. Ob ich mich abwenden soll wie damals. Das Silbergrün der Olivenblätter hat sich in den letzten Tagen verfärbt, die Hänge und Täler liegen wie ermattet unter einem braunen, staubigen Belag, gegen den sich das Meer mit härterem Blau abgrenzt. Keine Stimmung für Geduld und Nachsicht. Ich will Ihnen nichts ersparen. Die Landschaft ist schuld. Wieder höre ich das tiefe Surren des Zuges. Liliane Delaborde, die »Kopfmalerin«, die von ihrem Weltruhm noch kaum etwas, von seinem blitzartigen Verfall und ihrer zweiten, Sir Dschejdschej zu verdankenden Karriere als Chefin einer florierenden Werbeagentur in Los Angeles überhaupt nichts ahnt, sitzt mir auf dem Fensterplatz gegenüber; wir haben das ganze Abteil für uns. Die Schneefelder tauchten am rechten Rand des Fensters auf, sie bogen sich im Halbkreis auf den Horizont zu und kehrten am linken Fensterrand in die Nähe zurück, flutschten davon. Vielleicht, überlegte ich, fährt der Zug nicht durch eine Landschaft, die sich auf beiden Seiten parallel zu den Gleisen erstreckt, sondern wir stehen, und die grauweißen Flächen mit den wenigen wirren Büschen umkreisen uns auf einer großen Drehscheibe. Gegen mein besseres Wissen von der besonderen Art der digitalen Zugfenster zwang ich mich zu dieser Vorstellung und hatte Spaß an ihr. Ich hätte Liliane fragen können, wenn ich sicher gewesen wäre, dass sie beim

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