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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Tage. Bett. Badewanne, Sessel. Teppich. Küchenstuhl. Wir fielen uns an. Wir waren Kannibalen. Wand, Fenster, Waschbecken, in der Tür, am Herd. Kein Ort, der uns voreinander schützte. Hatten wir jedes Maß verloren? Ja. Wir hatten uns für den maßlosen Augenblick entschieden, oder er hatte sich für uns entschieden. Die Pausen mit Wein, Salami, Käse, zähem Weißbrot. Kein Aufenthalt. Nichts aufschieben. Nicht überlegen. Sich nicht bewahren. Unverborgen voreinander sein. Nicht fragen, wer wir nachher sein werden. Alles musste jetzt wirklich werden, alle Träume körperlich. Als hätten wir uns bis zu diesen Tagen und Nächten aufgespart, jagten wir einander ab, was bis dahin versäumt schien. Mittag und Mitternacht gerieten durcheinander, ohne Gewicht trieben wir uns über den schmalen Grat zwischen Schmerz und Lust, als wäre der Tod kein Abgrund, sondern ein Gipfel. Mit ihrem »Alles« … hatte Liliane den Zauber ausgesprochen, der uns beide befreite, keinem Gesetz mehr unterworfen. Schläfrig fragte sie nach zwei Tagen zum ersten Mal, wie spät es sei. Die Zeit des Zaubers war abgelaufen. Ich sagte: »Ich möchte mit dir verreisen.« »Ja«, sagte sie, »morgen. Bloß keine Pläne. Ich bin tot. Und ich habe kein Geld.« »Nach Prag?« fragte ich. »In einer Woche?« Sie wälzte sich auf die Seite, drückte ihren Hintern in meinen Schoß, holte sich mit sicherem Griff rückwärts meinen Arm herüber und legte meine Hand auf ihre Brust. »Klar«, sagt sie, schon auf der Bahn in den Schlaf, »in einer Woche, und nach Prag. Ich verkaufe meine Kakteen.«
    Vor dem Computer des Antimago erinnerte ich mich an diese Reise, und dass mir damals, im Abteil des Zuges Liliane gegenüber, die zwei Tage ganz und gar gegenwärtig waren, in denen wir ineinander gefallen waren. Und so wie mich jetzt die weit hinter uns liegenden Tage noch immer erregen, erregten sie, gerade erst vergangen, mich damals im Zug. Ich sehne mich jetzt, ich sehnte mich damals nach Liliane, die unerreichbar in ihr Buch vertieft zu sein schien, ich wünschte sie mir nackt, ich stellte mir vor, mich mit ihr einzuschließen auf der Zugtoilette, ich sah sie vorgebeugt am Waschbecken stehen, ich sah über ihre Schulter hinweg im Spiegel die Brüste und meine Hände auf ihnen, ich sah den hochgeschlagenen Rock und spürte die leichten Schwingungen des Waggons. Doch so wie ich mich damals entschied, Liliane nicht zu fragen, sondern mit den Schalt-knöpfen an der Armlehne meines Sitzes das Bildprogramm für das digitale Abteilfenster zu wechseln, muss ich mich nun entscheiden, nicht länger Phantasien nachzuhängen, die meinem Alter kaum mehr gemäß sind und die Charisia nicht gerne hören würde. Auch wenn ich meinen Wunsch kaum bezähmen kann, Ihnen, Herr Minister, durch größere Ausführlichkeit in der Schilderung von Details vor Augen zu führen, wie einfallslos Ihre eigene Begegnung mit Liliane gewesen sein muss.
    Der Zug glitt auf der Sohle des tief eingeschnittenen Grabens seinem Zielbahnhof entgegen, und ich änderte die Fensterillusion von der flachen »Landschaft mit Schneefeldern« zuerst ins »Gebirgsmotiv« A2, klickte aber nach wenigen Sekunden in Fahrt an der »Meeresküste im Sonnenuntergang« A6, dann wiederum auf A3, »Mischwald im Frühjahr«, wo, wie ich wusste, nach einigen Minuten das Reh auftauchen würde, das erschrocken aufblickte und dem Zug hinterher sah. Liliane sah nicht auf. Sie nahm meinen Wunsch nicht wahr, und ich war enttäuscht, weil meine Erregung sich nicht auf sie übertrug. Sie hatte die zwei Tage, in denen wir jeden Wunsch des andern, schon bevor er angedeutet war, vorweggenommen hatten, nicht vergessen, aber für sich abgeschlossen wie eine Ballade. Sie wusste besser als ich, dass keiner dieser Augenblicke ohne Verlust wiederholbar war. Sie war erwachsen. Ich war ein Kind, das sich Ewigkeit wünschte. Wieder wechselte ich das Fensterbild zur Winterebene. Die fast farblose Fläche, die schwarzen Frisuren der Gehölze, der lastende, schneeschwere Himmel passten zu meinem Gefühl: Liliane hatte sich von mir getrennt. Von unserer Ankunft in Prag zu berichten, hielte uns nur auf. Das übliche Bahnhofsgewühl, die übliche Taxifahrt bis in die Fünfkirchengasse, wo wir in dem kleinen Hotel Most das Doppelzimmer im ersten Stock bezogen, das Sie kennen. Ein blonder Bediensteter, sein weiches breites Deutsch begeisterte Liliane, schleppte die beiden Reisetaschen auf der engen Wendeltreppe nach oben, öffnete die Tür, wies

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