Die Nacht der Haendler
gefühlt, als seinerzeit die globalen Visionen endlich beendet, die Welterklärungen und Weltverbesserungen aus einem Guss gescheitert und die Harmonien des Terrors untergegangen waren? Damals, Sie erinnern sich, in der letzten großen Säkularisierung des Jahrtausends? Schweigen wir über den religiösen Wahnsinn, der sofort die geräumten Felder besetzte und uns Krieg auf Krieg bescherte. Hatten nicht dann die Antimagisten der kollektiven Gottes-Psychose eine höchst vernünftige Weltvorstellung entgegengesetzt? Nicht siegreich und leider terroristisch, wohl wahr – aber gedanklich … Und war nicht die Möglichkeit, aus der unmenschlichen Hysterie der Religionen wieder in die Heimat einer Ideologie zurückzukehren, verlockend gewesen? Welch ein Durcheinander der Hoffnungen und Widersprüche! Ich richtete mich auf. Die Falle des Ideals. Schon hatte ich sie mit einem Fuß wieder betreten. Ich musste mich nicht entscheiden. Ohne dass ich ihn berührt hätte, bootete der Zentralrechner sich selbst mit einem schrägen, unerfreulichen Klang. Hätte mir das Wissen geholfen, dass diese erweiterte Quart oder verminderte Quint im Volksmund Teufelston heißt? Und dass Boris Reeper, als er seiner Überlebensmaschine diesen Startklang eingegeben hatte, möglicherweise damit ebenjene Bedeutung verbunden wissen wollte? Ich war freilich auch ohne musikalische Verweisung so verwirrt, dass ich schon beim Begrüßungsbild, der lächelnden Maske des Quinta 2004 , mit dem sich aufblähenden Gesicht des Antimago rechnete, zumindest mit seiner Stimme. Stattdessen erschien die Frage, ob ich eine Virusprüfung vorzunehmen oder nach Würmern oder Trojanern zu suchen wünschte. Ich lehnte ab, holte mir das Treppendokument von der Festplatte. Es ließ sich nicht öffnen. Ich versuchte es erneut, mit Mausklick, mit dem Befehl aus dem Menu FILE , mit Tastenbefehl – ohne Erfolg. Nicht einmal die Frage nach dem Passwort tauchte auf. Der Monitor strahlte blau und verschlossen. Sie werden verstehen, dass ich das Gefühl hatte, ausgetrickst zu werden. Die Maschine, vor wenigen Minuten noch zugänglich, hatte aus meinem ersten Versuch bereits gelernt, sich zu verweigern und den Modus geändert. Ich lehnte mich zurück, versuchte, mich zu besinnen. Aber in meinem Kopf wuchs nur die Verwirrung. Wie lange würde Stieftaal ausbleiben? Wann würde er mit Reepers Tochter Anna zurückkehren, frisches Brot bringen, Wein für den Abend? Und was sollte ich ihm berichten, was Anna verschweigen? Während ich noch glaubte, ich hätte die Wahl, sprang, ohne dass ich einen Befehl eingegeben hätte, das Gesicht des Antimago im Monitor auf, größer als zuvor, auch in den Farben jetzt nahezu naturgetreu, und die Stimme setzte wieder ein, ihr jakobinischer Ton duldete keine Widerrede. »Du hast also Angst, Heinrich. Gut begründete Angst. Denn du bist schuldig. Du versuchst, das ehrende Gedenken an einen Toten zu schänden, ja eine ganze Philosophie in Verruf zu bringen! Fühlst du nicht die Gefahr? Hängst du am Leben? Stieftaal hat in seinem Leben schon so viele Menschen umgebracht, dass es vor dem Gang der Geschichte auf dein unmaßgebliches Herz wahrlich nicht ankommt. Sein Terror war immer sofortige, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit. Ein Ausfluss der Tugend also. Was willst du tun? Fliehen? Ich bitte dich zu meinem eigenen Vergnügen: Schalte doch wenigstens ein bisschen an meiner Maschine herum, versuche, die Schlüssel-DVD wieder herauszukriegen, damit du sie heimlich zurücklegen kannst, bevor mein guter Hans dir auf die Spur kommt.« Ich rührte mich nicht, sagte nichts. Er wusste also nicht alles und hielt Stieftaal noch immer für seinen Verbündeten. Man konnte ihn hintergehen. Doch nur außerhalb dieses Raumes? Ich spürte, wie von meinen Fußsohlen ein Zittern in mir aufstieg. Das Gesicht auf dem Monitor wartete. Die Ewigkeit einer halben Minute. Dann grinste Reeper. »Okay, du duckst dich in den passiven Widerstand und versuchst, mich auszuhungern. Das wird nicht sonderlich spaßig. Ich schlage dir vor, Dokument sieben aus der Pyramide zu wählen, zu öffnen und dann zu entscheiden, ob du weiterhin den Beleidigten spielen willst. Aber ich kann das auch gleich für dich besorgen.« Ich antwortete nicht, ließ das Keyboard unberührt. Reepers Gesicht schrumpfte auf dem Monitor zu nichts, das Pyramidenmodell REALITÄT wuchs aus der Tiefe, der Quader 7 schoss aus der Grundfläche hervor, weitete sich aus, bis der ganze Bildschirm mit einem flimmernden
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