Die Nacht der Haendler
Blick aus dem Fenster dieselbe Beobachtung machte. Aber wahrscheinlich hätte sie mich ausgelacht, weil sie so gut wie ich wusste, dass, was wir sahen, nicht die Wirklichkeit war. Also schwieg ich, und sie las ungestört weiter im französischen Kunstführer Prag Kleinseite . lm oberen Teil des Illusionsfensters spiegelte die Bordelektronik die Daten des TGV-600-C Paris–Prag ein, noch 142 Minuten bis zur Ankunft, Geschwindigkeit 377 km/h, aber ich nahm die Anzeige nicht wahr, blickte auf Liliane, ihr dem Buch zugeneigtes Gesicht, an dem mir zuerst die breiten Backenknochen aufgefallen waren, »mein slawisches Erbe«, hatte Liliane gelacht. Dreizehn Tage war das erst her. Jetzt saß sie mir so vertraut gegenüber, als ob ich sie seit Jahren kennen würde. Liebte ich sie? Ich hatte sie nicht gesucht, sie war es, die mittags, von der Kellnerin angewiesen, in dem winzigen Restaurant Chez Julien am Rive droite an meinem Tisch Platz genommen hatte, mit der Bemerkung »Man setzt mich hier gern zu Deutschen, weil man weiß, dass ich deutsch kann«, den kleinen Karton mit Kakteen neben meinen Füßen auf den Boden stellte und mir ungefragt und ohne weitere Einleitung von Selenicereus grandiflorus, Echinokaktus grusonii, Opuntia ficus-indica und anderen Gewächsen der Gattung Cactacea zu erzählen begann. Als uns das Sorbet Citron serviert wurde und die Flasche Sancerre Les Belles Dames geleert war, wusste ich ebenso wenig wie zuvor über die Stachelgewächse; ich hatte nicht zugehört. Aber ich glaubte viel zu wissen von Lilianes graublauen Augen, ihrem energischen Kinn, ihren breiten Lippen, sie hätten eher einer Schwarzen zu Gesicht gestanden als der blonden Französin, die ihr Haar nach unerfindlichem System zusammengedreht und über dem Scheitel als wirres Nest festgesteckt trug. Schon hatte ich mir vorgestellt, wie Lilianes auffallend große Hände dieses Nest lösen würden. Ich bestand darauf, zu zahlen, und Liliane lud mich zu Kaffee und Digéstif in ihre Wohnung nahe der Metrostation Châtelet ein, wo es nach Ölfarben, Tusche und Terpentin roch. Nein, ich habe nicht vergessen, dass Sie dringend mehr über die Macht des Artimago erfahren müssen, verehrter, unbedenklicher Freund, und dass in Ihren Augen meine Reise nach Prag eine mehr als lästige Verzögerung darstellt, zumal ja für Sie die Begegnung mit Liliane aus heutiger Sicht ein flüchtiges Abenteuer ist, keiner Erinnerung mehr wert, nur noch ein ungewisser Punkt auf der Scala Ihrer Biografie. Für mich aber bleibt Prag verbunden mit Liliane, die ihre großformatigen Bilder der Nach-Kaktus-Phase schon sämtlich im Kopf trug und hinter ihrer Neigung zu den Stachelgewächsen ein, wie Sie leider wissen, ganz und gar nicht abwehrendes Wesen verbarg. Keine Angst, wir werden den Überblick schon nicht verlieren, denn wie jede Geschichte hat auch diese Anfang und Ende – nur dazwischen verzwirbelt sich meine Phantasie wie das Haarnest auf Lilianes Kopf: anscheinend ohne System, jeden Tag anders, am Ende aber immer als Frisur erkennbar. Und wie sie sie lösen konnte! Ich hatte den Karton mit Kakteen irgendwo in dem unbeschreiblichen Chaos der Küche abgestellt, das schmale Entree durchquert und das Zimmer betreten, in dessen Mitte, vor dem Licht des Atelier-Erkers und zwischen dem überladenen Schreibtisch und dem ungemachten Bett, Liliane ihren Mantel auf den Teppich geworfen hatte. Und sofort Bluse, Rock, Büstenhalter. Das Haarnest glitt auseinander, noch wollten die Windungen sich halten, Liliane schüttelte mutwillig den Kopf, und während die Locken der Bewegung nachfielen, fühlte ich mich beobachtet von den kupfernen, sich zur Mitte hin verdunkelnden Höfen ihrer Brustwarzen. »Bin ich dir zu schnell?« fragte Liliane. »Hast du Angst?« Ich zog meinen Mantel aus, ließ ihn fallen, fragte: »Und was dann?« »Deutscher Mann!« lachte sie. »Dann gibt es nicht. Jetzt. Alles. Ohne Ausnahme«, sagte sie und streckte die Hände nach mir aus. Versuchen Sie, sich zu erinnern! Ist sie auf Sie anders zugegangen? Hat sie in ihrer erotischen Internationale je nach Landescharakter differenziert und für den Amerikaner zuerst das Haar gelöst als Zeichen ihrer Bereitschaft? Verzeihen Sie, ich wollte nicht indiskret werden. Sie hatten ja in Prag nur eine kurze Begegnung – soweit ich weiß. Liliane und ich aber hatten zwei Tage in Paris. Ich trage die Bilder, Gerüche, die Laute alle mit mir, ich spüre in meinem alten Körper noch immer den jungen von damals. Zwei
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