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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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in der des Dachbodens in Falling, wo ich vor dem Computer Reepers sitze. Ich könnte die Augen schließen, länger als drei Sekunden … und der Eyestopper würde das Programm beenden …

13
    DER ZUFÄLLIG AUSGELÖSTE BLITZ in einem der zur Sammlung weitergereichten Fotoapparate war die letzte Chance meines Lebens, mir Sicherheit zu verschaffen, welche der drei Gegenwarten die einzig reale war, in der ich geboren worden war und lebte, in der ich sterben und unwiderruflich aufhören würde zu sein. Ich hätte meine Existenz grammatisch ordnen können zwischen Präsens und Präteritum und dem alle Zeiten umfassenden Konjunktiv der virtuellen Welt und ihrer Cyber-Räume … Der Schmerz schoss aus dem Nacken in meinen Kopf hoch, beißender, glühender denn je. Er warf mich zu Boden, ich krümmte mich vor Reeper, er zog Stacheldrähte durch mein Gehirn, ich winselte, heulte um Gnade, nie wieder würde ich zweifeln an seiner Realität, stieß ich hervor – und endlich beugte der Große sich zu mir nieder, ergriff meine Hand und richtete mich auf. In gleichmäßigen Wellen ebbte der Schmerz ab und zog sich zurück durch den Nacken bis zwischen die Schulterblätter, wo ihn Reeper als winzigen Druck bestehen ließ, als beständige Mahnung. An seiner Hand lief ich mit ihm den Gang hinunter zur Pforte, durch das Seitenschiff in die Sakristei, aus ihr stiegen wir eine Treppe hinauf zur Bibliothek, wo der Silberofen gereinigt und kühl in einer Ecke stand, vor den hinter Glastüren verwahrten Folianten.
    »Einfach und klug«, sagte Reeper. »Das fauchende Räucherwerk, das hygienischem Zweck diente, zugleich als Zeitpendel einzusetzen, im Dienst der Vanitas; geschickt sich zum Himmel sich schwingende Heiligkeit und der aus der Höhe niederstoßende Apokalypse! Steigender und stürzender Engel, der sich im tiefsten Grund unserer Seele mit dem Untier Baal verbündet, das am Ende von der Macht der Kirche gebändigt und überwunden wird. Vor solcher Union aus Nützlichkeit und Seelenbeherrschung, die die Menschengehirne aufschaukelt, sollte jede spätere Weltideologie sich verneigen. Nur wir nicht. Nicht wahr, Heinrich? Wir nicht!« »Wir sind das neue Jahrtausend«, sagte ich kleinlaut. Er lief mir voraus, fand eine niedrige Holztür zwischen den eingebauten Regalen, trat gebückt in einen kühlen, feucht riechenden Steingang, der zur untersten Stufe einer eng gewundenen Marmortreppe führte. Aus dem gleißend hellen Himmelsloch, in das sie münden musste, fiel der Lichtschein bis hierher in die Tiefe. Reeper presste sich an die Wand und ließ mich voraussteigen. Die Schraubung der Stufen schien mir endlos, mein Gehirn wickelte sich um sich selbst, bis ich in der Spitze des Turms auf einer hölzernen Plattform stand, dick mit weißgrauem Taubenmist bedeckte Planken. In den vier Himmelsrichtungen vier bis zum Boden reichende, offene Bögen im Mauerwerk. Dahinter das Nichts. Reeper trat neben mich. Mir schwindelte. Er zwang mich, hinunterzusehen auf den handtellergroßen Platz vor der Obradoiro-Fassade der Kathedrale, auf deren rechtem Turm wir in der durchbrochenen Spitze standen, direkt unter dem Gehänge der kleinen Glocken.
    Die Menschen unter uns waren winzig. Reeper sagte: »Sieh dir die Läuse an. Sie fallen über die Welt her und saugen sie aus. Und wenn die Welt ihren Hunger nicht stillt, fallen sie übereinander her, trinken das Blut ihres Nachbarn, fressen ihre eigene Brut, sie glauben nur an das, was sie satt macht, sie beten nur aus Angst, sie machen sich Läusebilder und beten Läuseheilige an und nennen sich Krone der Schöpfung!« Zugleich spürte ich seine Sehnsucht nach denen, die er Läuse nannte. Er wäre selig gewesen, wenn sie ihre Arme zu ihm erhoben, ihre Mützen in die Luft geworfen, in hellen Chören zu ihm Vivat! heraufgerufen und auf ihre Knie gesunken, ja wenn sie ihn wenigstens bemerkt hätten, hier oben im freien Wind! Sie aber beteten nur ihre Läusebilder an, und Reeper hatte sich entschieden, sie zu zwingen, ihre Bilder als Schein und Trug zu erkennen. Damit hatte er sich selbst eine Falle gestellt … Nie würde er sie genießen, die zu einem jubelnden Körper verschmolzene Masse, deren Atem den Großen zu noch größerer Größe emportragen konnte – sie hatten kein Bild von ihm. Sie kannten ihn nicht. Sie durften kein Bild von ihm haben, wenn er ihr Gott sein wollte. Also konnten sie ihm nicht ihren Glauben zu Füßen legen, was sie zweifellos gern getan hätten, wie so oft schon zuvor in ihrer

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