Die Nacht der Haendler
Reeper, baute sie Jahr um Jahr meines Lebens aus den Bildaufzeichnungen desselben. Altmodische Bausteine, mein Lieber! Ich misstraue der Dauer von DVD und Speicherchip, ich setze auf die Videokassetten meiner Biographie … Es sind neuntausendvierhundertundzweiunddreißig. Ihre Spieldauer beträgt vierzehntausendeinhundertachtundvierzig Stunden! Ich habe sie gesehen und geordnet und geschichtet. Ich brauchte dafür eintausendachthundertneunundsiebzig Tage! Ich habe sie sämtlich in meinem Rechner gespeichert, sie dort miteinander in Beziehung gesetzt. Ich habe sie nach den Wegen meiner Biographie sortiert. Ich habe den Computer gebeten, mir die reine, logische Anordnung für ihren Aufbau zu berechnen. Und – bedenke das Wunder! Ich schrieb mit ihnen meine Geschichte, und ich hatte kein Bauwerk vor, wirklich nicht – doch als ich als trigonometrisches Zentrum die letzte, mich selbst darstellende Kassette mit meinem eigenen, für mich selbst geschaffenen und auf das Magnetband kopierten Programm vorgab und ihr den Titel EGO verlieh, da entwickelte sich aus ihrer zeitlichen wie statischen Folge von selbst … im Computer die Pyramide! Mein Leben
– eine Königsform! Ich, der dreckige, verlauste Waisenjunge aus den stinkenden Videospielhallen von Chicago, der das Ausgekotzte der Cyber-Space-Idioten aufzuwischen hatte, ich, dessen Leben vorgezeichnet war als kurze Spur zwischen den Kakerlaken im Dreck unter der verrosteten Hochbahn! Ich war tatsächlich, beweisbar, unwiderleglich der letzte wirkliche Pharao der Welt!« Er nahm mich am Arm, und gemächlich, wie es seinem Alter zukam, führte er mich um die Pyramide seines Lebens. In der Dämmerung hatten die Innenschals vor den Glaswänden des Oktogons einen gelblichgrauen, schmutzigen Ton angenommen, aber die Schmetterlingsflügel trugen noch das Restlicht, oder sie hielten die Helligkeit des vergangenen Tages zwischen ihren Farbschuppen fest und leuchteten kaum schwächer als bei unserer Ankunft im Allerwirklichsten. Reeper betrachtete sie mit einem seligen Ausdruck, in sich gekehrt, und ich ahnte, dass er von ihrem Anblick zurückgeführt wurde zu dem Moment, als ihn sein Rechner mit dem Bau der Pyramide zum Pharao erklärt hatte. »Nein«, sagte er, ohne mich anzusehen, »so ist es nicht. Ich war glücklich, ja, aber mir fehlte etwas. Etwas, das ich nicht benennen konnte und nach dem mich dennoch so dringend verlangte, dass mir sein Fehlen Schmerzen verursachte. Ich sah mein Leben vor mir, all die gespeicherten Bilder und Töne, ich wusste, nach dem Sieg des Antimagismus würde meine Pyramide der einzige, von allen Bildern der Welt übrig gebliebene Vorrat sein; ich hatte jedes kassettenidentische Dokument im Rechner mit jedem anderen und wiederum alle mit meinem EGO vernetzt, ich konnte in meinem virtuellen und zugleich wahren Leben spazieren gehen, wann und wohin immer ich wollte, ich konnte in der Zeit springen, ich konnte verändern, was mir nicht gefiel, ich konnte mich mit mir selbst unterhalten, ich konnte Veränderungen rückgängig machen, wenn sie mich langweilten, ich konnte in andere Bildprogramme der Welt eindringen, alles stehlen, wonach mich gerade gelüstete, und mit dem Bestand mischen – und bald würde ich mein EGO -Programm so verfeinert und ausgeweitet haben, dass ich über den Tod meines Körpers hinaus in der Lage wäre, eine durchaus gleichartige Existenz beizubehalten – was lediglich eine Frage der Speicherkapazität war … Aber etwas fehlte mir. Es fehlte mir so sehr, dass ich krank wurde. Sterbenskrank. Ich wurde täglich schwächer, nichts konnte mir helfen. Als Anna an einem Abend wie immer an meinem Bett saß und auf meinen Atem horchte, sah ich, dass sie die Hände faltete. Ich fragte sie, worum sie bete und zu wem? Sie sagte, sie bete für meine Seele. Noch verstand ich nicht, dass sie mir in diesem Augenblick geholfen hatte. Aber am Morgen des nächsten Tages fühlte ich mich besser, am Abend konnte ich essen, und tags darauf war ich kräftig genug, aufzustehen und mit Stieftaals Hilfe in mein Allerwirklichstes zu gehen. Ich sah die Pyramide aus den schwarz glänzenden Plastikbausteinen, ich wusste, das Leben, auf das ich blickte, bestand nur aus den aufgespulten Magnetbändern in den Kassetten – es war mein Leben, aber zugleich nicht meines . Auch sein Abbild in meinem Rechner war sozusagen lebendig, aber zugleich war es tot, es bestand nur aus Bits und Bytes. Was ihm fehlte, war eben jenes flüchtige und nicht
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