Die Nacht der Haendler
Augen. Und das Seil, das sein Blick zwischen ihm und mir gespannt hatte, wurde von seinen Lidern zerschnitten. Charisia zog die Schultern hoch, als ob ihr plötzlich kalt geworden wäre. Sie wandte sich ab. Signora Calise sank vornüber auf die Hände ihres Sohnes und bedeckte sie mit Küssen. Wann werden Sie, verehrter Minister Cognac, begreifen, dass mir neben dieser Erfahrung Ihre Sorgen um das Verschwinden des Geldes immer weniger bedeuten? In Ihrem jüngsten Brief – ich danke Ihnen, dass Sie nun von Telegrammen Abstand genommen haben – drückt sich nur noch die schiere Verzweiflung aus. Ja, es ist traurig, dass Sie meinen, ich solle Ihnen nun endlich helfen – dabei tue ich seit ich weiß nicht wie vielen Briefen nichts anderes. Ich kann allerdings nicht trauern darüber, dass große Nationen wie Japan und Deutschland jetzt ihren Zahlungsverkehr so verschlüsseln müssen, dass Codierung und Decodierung länger dauern als vor Jahrhunderten der Transport einer Schatulle Gold mit der Postkutsche. Und es wird auch nicht helfen! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Verschlüsselungsprogramme Boris Reeper in den zurückliegenden Jahrzehnten geknackt hat, wie viele Methoden er kennt, miteinander abgleicht und anwendet? Bin denn ich schuld daran, dass der Geheimdienst Ihres Landes schon am Ende des letzten Jahrhunderts ein allgemeines Verbot der PGP -Verschlüsselung durchgesetzt hat, weil er diese Methode, in der Sender und Empfänger jeweils nur einen Teilcode besitzen und jeder von beiden gleichsam die Hälfte eines durchgerissenen Geldscheins in der Hand hält, nicht knacken konnte? Habe etwa ich gesetzlich geregelt, dass nur noch CLIPPER zugelassen wurden, jene vollständigen Codes, die von den Behörden Ihres Landes jederzeit zu entschlüsseln sind? Habe ich das ELECTRONIC BANKING eingeführt? Bin ich verantwortlich für die Börsenprogramme, die selbständig entscheiden, ob bei Kursschwankungen zu kaufen und zu verkaufen ist, wodurch der rasende Automatismus in Gang kam, der jetzt die gesündesten Konzerne in den Ruin treibt?
Nein, lieber Freund! Ich habe zu diesem als Fortschritt gepriesenen Unfug nichts beigetragen. Es ist das System selbst, das sich auffrisst. Es ist die Entropie der Datenwelt, die wir erleben, und die der Antimago sich zunutze gemacht hat. Sie wollen einen Rat? Nun gut: Sprengen Sie die Datenautobahnen! Kaufen Sie sich ein Beil und zerhacken Sie damit die Kabelstränge, die aus den Rechnern zu den Satellitenstationen führen! Zerreißen Sie mit geschleppten Ankern die Glasfaserleitungen, die am Grund der Ozeane liegen! Legen Sie die Axt an Kabelbäume! An der Wurzel! Anker und Beil, Mensch und Werkzeug, eine erprobte Kombination …Ein Beil hat eine eindeutige Verbindung, eine sichtbare Schnittstelle zwischen der Klinge und der menschlichen Hand: den hölzernen Stiel. Was uns mit unseren Computern verbindet, wo hier die Schnittstelle zwischen Gehirn und Rechner liegt, ist undefinierbar geworden, nicht die Hand jedenfalls, nicht die Tastatur, irgendetwas im Kopf ist es, Auge, Synapsen, und Reeper weiß das, er weiß es vielleicht am besten von uns allen, weil er selbst ein Programm ist. Erinnern Sie sich an den Satz über die Geldkatastrophe, den ich in Ihrem ersten Brief so bemerkenswert fand? »Die Frage«, schrieben Sie, »ob wir nicht nach einer solchen Katastrophe glücklicher sein würden als zuvor, verbietet sich angesichts des Schreckens, den es bedeutet, sich in ihr zu befinden.« Nun ja, für Sie! Aber für die Habenichtse und die, deren Schulden ihre Lebensaussicht übersteigen? Und doch war Ihnen zugleich bewusst: »Geld ist die Trauer um verlorene Liebe!« Schrieb ich Ihnen nicht, dass mich diese Ihre Einsicht wie ein Schlag traf? Damals waren Sie freilich noch nicht Finanzminister … . Inzwischen träumen Sie davon, als Retter des Geldes, als Lordsiegelbewahrer jener »Trauer« in die Geschichte einzugehen. Widersprechen Sie nicht! Aus jeder Zeile, jedem Wort Ihres Briefes spricht die Panik, dass Sie das Ziel Ihrer Eitelkeit verfehlen könnten! »Das Geld muss um der Menschheit willen gerettet werden!« Was für ein irreführender und zugleich lächerlicher Satz! Ich bin mir keineswegs sicher, dass Sie sich noch auf dem Boden der Realität befinden. Wer kann mir sagen, ob die Regierung Ihres Landes nicht eine virtuelle ist? Das würde mir einige Widersprüche Ihrer Vorstellungen zumindest besser erklären als die gute alte Psychologie. Vielleicht sind Sie ein
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