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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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voneinander abziehen, dass weniger als nichts übrig blieb, und das war tatsächlich erschreckend. Aber endlich reichten doch alle Zahlen der Welt nicht aus, die Sandkörner der Wüste zusammenzuzählen. Und so lange das nicht möglich war, machte er sich keine Sorgen über die Zahlen, sondern nur über den Hunger und den Tod. Und Hunger und Tod kannte er. Er wusste nicht, warum er in den Hunger geboren worden war. Als ich ihm die Zusammenhänge zwischen der Wirtschaft des Nordens und der Armut des Südens zu erklären versuchte, winkte er ab. Er wolle nur wissen, warum er, ausgerechnet er, an einem Ort der Welt das Licht erblickt hatte, wo auch der Hunger zu Hause war. Und warum er nach Europa kam, wo es keinen Hunger gab, und der Hunger ihm trotzdem folgte wie ein Hund. Er wollte wissen, warum die Soldaten ausgerechnet in sein Dorf gekommen waren. Oder warum sein Dorf gerade an jenem Tag an jenem Ort stand, an den die Soldaten kamen. Sein Dorf hätte doch ebenso gut an einem anderen Ort am Rand der Wüste liegen können. Je mehr er getrunken hatte, um so hartnäckiger setzte er meinen Beschreibungen der Wirklichkeit die Frage nach seinem Schicksal entgegen, und danach, wer es so beschlossen hatte, wie es war. In welchem Buch das geschrieben stand, und womit er verdient hätte, kaum geboren, schon bestraft zu werden. Ich hatte keine Antwort für ihn. Je müder ich wurde, um so wacher wurde der Händler. Von Schlangen und Skorpionen erzählte er, von den Wundern, die der Marabut getan hatte, von Kamelen, die fliegen konnten und dabei so hilflos aussahen, dass einer seiner Onkel sich bei ihrem Anblick tatsächlich zu Tode gelacht hatte. Ich hörte ihn bald nur noch von fern, seine schöne, melodisch sich wie auf Dünen bewegende Stimme, die rau war und weich, und ich sah ihn stolz auf einem Schiff stehen, das ganz aus Teppichen genäht war und weiße Ballen geladen hatte, ich sah dieses Schiff über den Sand fliegen, und ich wunderte mich darüber, dass der Sand nach Rosen roch, sehr deutlich und süß nach Rosen. Und aus der Ferne dieses Duftes hörte ich die Frage des Händlers: »Warum begleitest du mich nicht nach Hause und erzählst den Menschen in meinem Dorf von der Gefahr für den Sand und die Rosen?«
    Als der Morgen mich auf der Terrasse fand, mit brummendem Schädel lag ich auf der Platte meines Pinientisches, war der Händler mit seinen Waren verschwunden. Meine Jacke hatte sich mit der nächtlichen Feuchtigkeit vollgesogen. Ich fror. Ich wusste, der Bursche hatte mich bestohlen.
    Ich ging ins Haus, die Hunde lagen schlafend auf dem Küchenboden. Die Gasflasche war leer, ich duschte kalt. Ich durchsuchte das Haus. Nichts fehlte. Viel hatte ich ja nicht, aber er hätte wenigstens eine Flasche Wein mitgehen lassen, mir meine Brieftasche und meine Uhr klauen können. Er hätte mich auch umbringen können. Aber er hatte mir meine Dinge und mein Leben gelassen. Ich versuchte, mir seine Geschichte ins Gedächtnis zu rufen, konnte mich aber kaum mehr an Sätze erinnern, nur noch an die trostreiche Musik seiner Stimme und die fremden, von hellem Staub überlagerten Bilder. Und mit einem Mal, an diesem kalten Morgen, wusste ich, dass die arme Welt des Händlers, die wir die Dritte zu nennen pflegen, eigentlich die Erste ist – und bald die einzige sein würde, von der ihre Bewohner noch mit Gewissheit als Wirklichkeit sprechen dürfen. Ist es denn, frage ich Sie, die Not, die uns real sein lässt? Ist es der Reichtum, der uns zur Fiktion pervertiert?

14
    GIACCO HAT MICH ANGESEHEN. Ich saß auf der Kante seines Bettes. Auf der anderen Seite senkte sich die Matratze unter dem Gewicht von Signora Calise, die, so leise sie nur konnte, in sich hinein wimmerte. Hinter den vergilbten Gitterstangen am Fußende stand Charisia, ihr weißes Wolltuch um die Schultern. Sie sah es zuerst. »Aber er bewegt seine Augen«, sagte sie leise. Dann fing ich seinen Blick auf. Nein, er fing mich ein. Wie soll ich Ihnen Giaccos Augen beschreiben? Ein Blick ist ja etwas unmittelbar Gegenwärtiges, aber dieser Blick Giaccos flog aus weitester Ferne her, angefüllt mit einer mir unbegreiflichen Erinnerung traf er mich und prüfte meine Augen, die ihn ratlos empfingen. Ich spürte, dass Giacco mich nicht erkannte und doch zugleich alles von mir zu wissen schien. Seine Mutter hörte zu wimmern auf, als ein flüchtiges Zittern durch seine Finger lief, eine winzige Unruhe, und Signora Calise griff nach seinen Händen. Langsam schloss er die

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