Die Nacht Der Jaegerin
Gefallen tun, denke ich über eine vollständige Erklärung nach. Ich werde alles aufschreiben, und danach werde ich mich nie mehr dazu äußern. Ich verlange keinen Anwalt, und ich bekenne mich schuldig.› Und ich sage: ‹Aber Brigid, das wird nicht die Wahrheit sein, oder?›
Darauf hat sie sinngemäß gesagt: ‹Wann hat sich ein Polizist schon jemals für die Wahrheit interessiert?› Tja, die Polizei hat heutzutage keinen besonders guten Ruf mehr. Nicht mal bei überführten Mördern. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass sie nicht gerade in der besten Position ist, um Forderungen zu stellen, hat sie keinen Ton mehr gesagt. Wissen Sie, normalerweise kann ich endlos schweigend dasitzen, wenn ich dabei so eine gutaussehende Frau anstarren kann. Aber diese Frau wollte die Kontrolle über die Situation behalten. Vielleicht ging es um so ein Status-Ding: Die berühmteste Mörderin des Landes sitzt einem kleinen Licht von Provinzbullen gegenüber. Also hab ich nach ungefähr zwei Minuten gesagt: ‹Na gut, was wollen Sie?›»
Mumford tauchte an der Tür auf.
«Tut mir leid, dass ich störe, Chef, aber es ist so, wie wir befürchtet haben. Keine Chance, sie in den nächsten vier oder fünf Stunden aufs Revier zu bringen. Anscheinend sind inzwischen siebzehn Straßen unpassierbar. Und die meisten davon sind hier in der Gegend.»
«Pech.»
«Wir können nicht mal die Leiche wegbringen.»
«Wo ist er?»
«In dem Transporter auf dem Parkplatz.»
«Tja, dann erstatten Sie Howe mal genau Bericht.» Bliss klang nicht besonders unglücklich. Er wandte sich an Merrily. «Die Schneekönigin hat endlich rausgefunden, wer Natalie ist. Und jetzt meint sie natürlich, dass die Befragung eine weibliche Herangehensweise erfordert. Sieht so aus, als müssten Sie diesen Part übernehmen. Das wird Howe garantiert nicht schmecken, was meinen Sie?»
«Was hat Natalie denn gesagt, als Sie gefragt haben, was sie will?»
«Sie sagte: ‹Ich möchte so bald wie möglich meine Tochter sehen, und irgendwann möchte ich auch mit einer Pfarrerin namens Hochwürden Merrily Watkins sprechen.› Natürlich habe ich sie gefragt, warum, und natürlich hat sie sich geweigert, es mir zu sagen. Den Namen dieser Pfarrerin habe ich mir übrigens buchstabieren lassen, denn wir beide kennen uns nicht, klar?»
«Und warum werde ich dann das Gefühl nicht los, dass Sie dieses Gespräch absichtlich eingefädelt haben?»
«Es waren ihre Worte, Merrily. Ich schwöre es bei Gott.»
«Und Jane hat sie nicht erwähnt?»
«Nein, hat sie nicht, und ich bin froh darüber.»
«Das klingt, als wüsste sie nicht, dass ich hier bin.»
«Dann überraschen wir sie eben ein bisschen», sagte Bliss. «Aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, und trotz all meiner Lehrgänge, meiner Erfahrung und meiner persönlichen Ausstrahlung wollen manche Leute lieber Ihnen ihr Herz ausschütten als mir. Ich habe damit kein Problem. Es könnte eine Menge Zeit sparen.»
«Und wenn sie mir etwas streng Vertrauliches erzählt?»
«Dann erklären Sie ihr, was für ein netter, verständnisvoller Mensch ich bin, und dass sie sich gleich viel besser fühlen wird, wenn sie ihre Sorgen mit mir teilt – im Unterschied zu der kaltherzigen gemeinen Hexe, die in Hereford auf sie wartet, falls sie weiterhin schweigt.»
«Kann ich noch zu Hause anrufen, bevor ich zu ihr gehe? Ich möchte sicher sein, dass alles ... in Ordnung ist.»
«Wir haben alle Zeit der Welt», sagte Bliss.
Das Atemgeräusch klang verstärkt, wie bei einer Tonaufnahme, als wäre das Grab eine Echokammer, und irgendetwas hätte die uralte Leiche darin wiedererweckt.
Sie lag mit dem Oberkörper über dem umgestürzten Grabmal. Ihre Beine waren unter Schnee begraben, und Schnee hatte sich auf ihrem Schoß aufgehäuft wie Eiscreme in einer Schale.
Ein Stück des schräg umgesunkenen Grabsteins hatte ihr Gesicht vor dem Schnee geschützt, und im Licht der Taschenlampe war es genauso rötlich, wie Lol es in Erinnerung hatte. Ihre Zunge hing etwas aus dem Mund, und Speichel lief blasig aus ihren Mundwinkeln, wenn sie ausatmete.
Immerhin lebte sie noch.
Zähes altes Luder.
Lol kniete sich hin und wischte ihr den Schnee vom Körper, sodass man ihren rosafarbenen Steppmantel sehen konnte.
«Alice ...?», flüsterte er.
Als Antwort atmete sie bloß weiter.
Sogar ihr Atem schien kalt zu sein.
Sie hatte einen Schlaganfall gehabt. Eine Gesichtshälfte hing herunter, und ihre Augen waren geschlossen.
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