Die Nacht der Schakale
und Beobachtungen präzise mit dem Persönlichkeitsbild Lipskys übereinstimmten, das mir vor der Abfahrt in den Sektor der BND-Mann Ritter noch im Eiltempo eingetrichtert hatte.
Wir saßen uns in drei Meter Abstand gegenüber. Es ging um unsere Freiheit und um unsere Zukunft, aber wir hatten es schwer, uns damit zu befassen. Wir streichelten einander mit den Augen, ohne die Hände zu rühren.
»Ist das ein plötzlicher Entschluß, daß du zu Amnesty International gehst?« fragte ich.
»Nein«, antwortete Vanessa. »Ein Erfahrungswert. Ich bin der Meinung, daß man einfach etwas tun muß in unserer Zeit.« Sie sah mich fest an. »Zuerst einmal für jeden und notfalls auch gegen jeden – verstehst du mich?«
»Und ob«, antwortete ich.
Es klingelte. Lipsky kam genau um 20,58 Uhr. Wie ich ihn einschätzte, hatte er bis jetzt in der Normannenstraße gearbeitet und legte nunmehr einen kleinen Umweg zu seinem unwirtlichen Zuhause ein. Sein Gesicht kannte ich ja schon seit der Pullacher Lichtbildvorführung; in natura wirkte es noch durchschnittlicher.
Cynthia unternahm eine Art Vorstellung; sie wollte sich ins Schlafzimmer zurückziehen, aber Lipsky forderte sie auf zu bleiben.
»Wie fühlen Sie sich bei uns, Mister Meiler?« fragte der Stasi-Gewaltige.
»Wie der Besucher, der auf Wunsch des Zirkusdirektors seinen Kopf in den Rachen des Tigers schiebt«, erwiderte ich grimmig.
Er lächelte fast unmerklich. »Ist dabei schon jemandem der Kopf abgebissen worden?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, versetzte ich. »Es hat noch keiner mit mir gesprochen, dem zuvor der Kopf runtergerissen worden war.«
Wir setzten uns.
»Ich soll Sie grüßen, Herr Lipsky«, begann ich. »Von Helmut Kalbitzer.«
»Wer ist Kalbitzer?« fragte er verständnislos.
»Wissen Sie das nicht mehr? Der Obergefreite Kalbitzer ist seinerzeit gleichzeitig mit Ihnen dem Nationalkomitee beigetreten.«
Lipsky nickte, holte bedächtig seine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie, gab sich Feuer. »Wie geht's ihm jetzt?«
»Er lebt in Stuttgart«, antwortete ich. »Er leitet ein großes Installationsgeschäft und würde sich sicher freuen, wenn Sie ihn besuchten.«
»Das haben Sie sich aber fein ausgedacht«, entgegnete er, und wir grinsten beide. »Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen«, wurde Lipsky ernst. »Ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, in den Westen überzulaufen. Ich habe keinerlei Fluchtvorbereitungen getroffen. Es sind nur einige Umstände zusammengekommen, und plötzlich ist auch eine Gelegenheit da. Bis morgen Nachmittag, sechzehn Uhr.«
Phimoses paffte kleine Wölkchen; er sah mich dabei an. Es war schwer zu taxieren, welchen Eindruck ich auf ihn machte. »In etwa neunzehn Stunden gibt es also zwei Möglichkeiten«, fuhr er fort. »Entweder befinde ich mich bis dahin im Westen – oder Sie sind in der Hand von Staatssicherheitsorganen.«
»Sie werden verstehen, daß mir die erste Möglichkeit lieber ist«, antwortete ich.
»Mir momentan auch«, stellte Lipsky fest. »Aber da gibt es einige Bedingungen: Ich bin nicht so geldgierig wie mein Ex-Genosse Konopka, aber ich möchte im Westen auch nicht betteln gehen und mich mit sechzig noch abstrampeln müssen. Ich brauche eine neue Identität, sonst kann ich mich gleich ins Leichenschauhaus begeben.«
»Klar«, erwiderte ich. »Und kein Problem.«
»Welche Garantie können Sie mir geben, Meiler?«
»Cynthia und ich haben uns rückhaltlos in Ihre Hand begeben. Ein Wink von Ihnen, und wir sind erledigt. Für immer oder zumindest für viele lange Jahre. Wer so etwas riskiert, ist sicher auch fähig, im eigenen Lager für Ihre Forderungen geradezustehen.«
Ich mußte den richtigen Ton getroffen haben. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, bei Lipsky Terrain gewonnen zu haben, von Cynthia gar nicht zu reden. Die Art, wie er sie ansah – freilich im Sitzen – ließ unschwer erraten, daß er sie bewunderte. Aber der Henker, der Maria Stuart das Haupt abgeschlagen hat, soll sein Opfer auch bewundert haben.
»Wie stellen Sie sich das vor?« fragte Lipsky.
»Ich nehme an, daß Sie morgen am Empfang der kubanischen Genossen auf dem Flugplatz teilnehmen werden?«
»Wenn ein dienstlicher Grund dafür vorliegt.«
»Der besteht«, versicherte ich. »Sie übernehmen direkt von der Ehrentribüne die BND-Diplomatin Frau Doktor Cynthia Pahl, die anschließend die große Nummer in der Pressekonferenz abziehen wird.«
Er nickte und lächelte.
»Deshalb laden Sie die Dame auch
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