Die Nacht der Wölfe
Sie deutete ein Lächeln an. »Nun, wenn das so ist, kann ich wohl schlecht nein sagen, oder?«
Dieser Meinung war auch Doc Boone. Er bedankte sich überschwänglich bei ihr und lehnte den Tee und die Schokokekse ab, die sie ihm anbot. Offenbar wollte er so schnell wie möglich aus dem Haus kommen, falls sie es sich doch noch anders überlegte. Mit einer übertriebenen Verbeugung verließ er die Hütte, und schon wenig später hörte sie ihn und den Indianer auf einem der beiden Schlitten davonfahren. Den anderen hatte er für sie und Schwester Betty-Sue zurückgelassen. Durchs Fenster beobachtete sie, dass der Doktor in Decken gewickelt auf der Ladefläche saß und der Indianer den Schlitten steuerte.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte sie zu der Schwester. »Betty-Sue, nicht wahr? Ich bin Clarissa.« Sie reichte der jungen Frau die Hand. Betty-Sue wirkte zart und zerbrechlich, ihre Haut war so weiß, als wäre sie nur selten an der frischen Luft, und in ihren Augen stand die Angst vor dem Ungewissen, das sie in der Wildnis erwartete. »Ich hab Sie noch nie in Fairbanks gesehen.«
»Ich bin erst seit ein paar Tagen hier«, erwiderte sie. Ihre Stimme war kräftiger, als Clarissa befürchtet hatte. »Ich komme aus San Francisco. Dort habe ich als OP-Schwester in einer großen Klinik gearbeitet. Widrige Umstände …« Sie brachte ein Lächeln zustande, das sie noch verletzlicher aussehen ließ. »Nun, ich will ehrlich sein … Eine unglückliche Affäre mit einem unserer Ärzte zwang mich, den Arbeitsplatz zu wechseln. Er war verheiratet, wissen Sie? Als seine Frau uns zusammen in einem Restaurant erwischte, machte sie uns eine große Szene und reichte schon am nächsten Tag die Scheidung ein.«
Clarissa war bereits dabei, frische Unterwäsche in ihrem Proviantbeutel zu verstauen, und blickte sie durch die offene Schlafzimmertür an. Eine Affäre hatte sie der unscheinbaren Frau gar nicht zugetraut. »Dann wäre der Weg doch frei gewesen«, sagte sie. »Oder … Er wollte Sie wohl nicht heiraten?«
»Er hat sich nicht einmal von mir verabschiedet.« Sie wischte sich verstohlen einige Tränen aus den Augen. »Am nächsten Tag war er verschwunden, und ich war die böse Frau, die ihm den Kopf verdreht hatte. Nirgendwo in Kalifornien hätte ich noch eine Stellung bekommen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich beim Civil Service zu melden. Eigentlich wollte ich nach Hawaii, dort lebt eine Freundin, aber die einzige freie Stelle gab es hier oben.«
»Und jetzt sind Sie in Alaska.« Clarissa schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte man ein so zartes Geschöpf nur in die Wildnis schicken und dann noch in eine Goldgräbersiedlung wie Fairbanks, wo die Männer große Reden schwangen und man als Krankenschwester sicher keinen leichten Stand hatte. Sie konnte sich bildhaft vorstellen, was passierte, wenn ihr ein Goldgräber seinen nackten Hintern für eine Spritze entgegenstreckte. »Nehmen Sie’s leicht, Betty-Sue. Alaska ist ein wunderschönes Land, und an die Kälte und den Schnee werden Sie sich schon noch gewöhnen, und solange Sie keine Affäre mit einem verheirateten Goldgräber anfangen, kann Ihnen nichts passieren.«
»Sie machen sich lustig über mich!«
»Entschuldigung … aber keine Angst. Die meisten Goldgräber, die wir in den Dörfern treffen, sind auch nicht besser dran. Da sind sogar Leute aus Chicago und New York dabei. Haben einfach alles liegen und stehen lassen und sind zu uns nach Fairbanks gekommen … weil sie hoffen, dass wir hier einen genauso großen Goldrausch bekommen wir vor ein paar Jahren am Klondike.«
Betty-Sue stand auf und griff nach ihrer Mütze. »Ich werde Ihnen nicht zur Last fallen, Clarissa. Ich weiß … ich bin vielleicht nicht für dieses wilde Land geschaffen, aber ich bin eine gute Krankenschwester, und meine Patienten werden keinen Grund zur Klage haben. Das Einzige, wovor ich etwas Angst habe, ist das Zähneziehen … darauf bin ich, ehrlich gesagt, nicht vorbereitet.«
»Sie müssen Zähne ziehen?«, fragte Clarissa verwundert.
»Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, die Schmerzen zu behandeln, und solange kein Zahnarzt in Fairbanks eine Praxis eröffnet …« Sie schlüpfte in ihre gefütterten Handschuhe und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Ihre Miene wirkte besorgt. »Diese Indianer … Sind sie nicht gefährlich?«
»Schon lange nicht mehr«, erwiderte Clarissa lächelnd. »Mit den Sioux oder Comanchen, wie man sie aus Magazinen kennt, haben unsere
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