Die Nacht der Wölfe
bestand lediglich aus einem Blockhaus und wenigen Baracken, Unterständen und Zelten. Zahlreiche Huskys, die abseits der Siedlung an Holzpflöcke gebunden waren, veranstalteten ein ohrenbetäubendes Jaulkonzert, als sie Buster und sein Team witterten und Clarissa den Schlitten vor der Blockhütte parkte. Noch bevor sie den Anker in den Schnee gerammt hatte und Betty-Sue mit ihrer Arzttasche vom Schlitten gestiegen war, waren sie von zahlreichen Männern umgeben.
Der Anführer der Männer, ein heißblütiger Ire, der beim Bau der Canadian Pacific geholfen hatte, wie er schon während seiner Begrüßung betonte, führte die Ladys in das Blockhaus, das »Gemeinschaftshaus« der Siedlung, wie er betonte, und gleichzeitig wohl auch ein Saloon, denn außer einem riesigen Tisch mit Stühlen gab es dort auch einen langen Tresen. Der Ire bot ihnen Kaffee an, natürlich mit einem Schuss Whiskey, aber Clarissa und Betty-Sue begnügten sich mit Tee, den ihnen ein junger Mann in Zinnbechern servierte.
Während Betty-Sue sich an den Tisch setzte und ihre Arzttasche öffnete, bildete sich bereits eine lange Warteschlange in dem Blockhaus. Fast alle Bewohner von White Creek, so hatte es den Anschein, klagten über Schmerzen und wollten sich von Betty-Sue behandeln lassen. Schon nach wenigen Patienten stellte sich allerdings heraus, dass die meisten Männer nur gekommen waren, um die hübschen Ladys aus der Nähe zu betrachten, und eine Erkältung oder einen verstauchten Fuß vorschoben, um wenigstens für ein paar Minuten in ihrer Nähe zu sein. Sie strahlten über beide Backen, während sie von ihren Wehwehchen berichteten, und schluckten tapfer die Medizin, die Betty-Sue ihnen verabreichte. Für solche Fälle hatte sie bunte Bonbons dabei.
Der letzte Patient war ein bärtiger alter Draufgänger, der kaum noch gerade stehen konnte und auf einen Stock gestützt durch den Raum humpelte. Seine Begeisterung für das schwache Geschlecht hatte er trotz seines Alters aber nicht verloren. Er war sogar bereit, sich eine Spritze in den Hintern geben zu lassen, nur um der hübschen Lady zu zeigen, dass er durchaus noch in Form war. »Ich kann Ihnen sagen«, krächzte er, »so einen knackigen Arsch haben Sie lange nicht mehr gesehen.«
Betty-Sue schaffte es, nicht zu erröten, und reagierte so schlagfertig, wie Clarissa es nicht von ihr erwartet hätte. »Das glaube ich Ihnen auch so, Mister. Aber mir wäre es noch lieber, Sie würden sich ein Gebiss zulegen.«
Die anderen Männer quittierten die Antwort mit schadenfrohem Gelächter. Höhnische Kommentare hallten durch den Raum. »Und was soll ich mit den Zähnen?«, erwiderte der Oldtimer. »Für den Haferschleim, den’s bei mir gibt, reicht es auch so.«
Keiner der Goldsucher trat Betty-Sue oder Clarissa zu nahe, nicht mal zu einer anzüglichen Bemerkung ließ sich jemand hinreißen. Obwohl die Männer seit vielen Monaten keine Frau mehr gesehen hatten, benahmen sie sich wie Gentlemen. »Und falls ich die Goldmine finde, von der ich jede Nacht träume, krieche ich auf dem Bauch nach Fairbanks und halte um Ihre Hand an!«, verabschiedete sich ein Goldsucher, als sie die Siedlung verließen. Ein anderer rief: »Ich hoffe, Sie kommen bald wieder, Ladys! Und lassen Sie bloß den Doktor zu Hause, auf den alten Griesgram können wir leicht verzichten!«
Im schwindenden Tageslicht fuhren Clarissa und Betty-Sue nach Südosten. Die Schwester saß wieder in ihre Decken gehüllt auf der Ladefläche und blickte etwas misstrauisch in die Gegend; anscheinend hatte sie sich noch immer nicht an die karge Landschaft des Hohen Nordens gewöhnt. Clarissa verstand ihre Gefühle. Von einer pulsierenden Großstadt wie San Francisco in die Wildnis versetzt zu werden, war sicherlich noch schwerer, als aus einem bescheidenen Quartier in Vancouver in die kanadischen Wälder vertrieben zu werden. Auch sie hatte einige Monate gebraucht, um sich an die Einsamkeit, das extreme Wetter und die vielen Gefahren zu gewöhnen. Erst dann war ihr klar geworden, welch großartigen Tausch sie gemacht hatte. Die Landschaften des Hohen Nordens waren überwältigend, überraschten mit einer solchen Schönheit, dass sie heute noch mitten in der Wildnis den Schlitten anhielt und die eindrucksvolle Weite des Landes auf sich wirken ließ. Der Anblick der tiefgrünen und mit bunten Wildblumen gesprenkelten Wiesen im Sommer und der verschneiten Berge und Täler im Winter versetzten sie in eine friedliche Stimmung, die sie nur
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