Die Nacht der Wölfe
Fallensteller waren. Und als hätte es eines lebenden Beweises bedurft, lud Matthew die Schwester zu einer Schlittenfahrt in die nähere Umgebung ein und schlug ihr vor, die Nacht im Dorf zu verbringen und erst am nächsten Morgen nach Fairbanks aufzubrechen. Betty-Sues strahlende Miene war Antwort genug, und Clarissa dachte nicht daran, dagegen etwas einzuwenden.
Dennoch blickte sie den beiden mit einer gewissen Skepsis nach, als sie über die Hügel außerhalb des Dorfes verschwanden. Noch gab es keine Anzeichen dafür, dass sich etwas Ernsthaftes aus der Beziehung zwischen den beiden entwickeln würde, und doch konnte allein die Kunde von einem gemeinsamen Ausflug mit dem Indianer für Unruhe in Fairbanks sorgen und Betty-Sue vielleicht sogar ihre Stellung kosten. Auch im Hohen Norden gab es Vorurteile gegenüber den Indianern. Niemand hatte etwas dagegen, wenn sich ein Goldsucher eine »Squaw« für den Winter nahm, aber eine Beziehung zwischen einer Regierungsangestellten wie Schwester Betty-Sue, die im Auftrag des Civil Service gekommen war, und einem Indianer war undenkbar.
»Unsere Gedanken gehen in dieselbe Richtung, nicht wahr?« Der Häuptling war unbemerkt neben sie getreten, ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und großen Ohrringen aus Muscheln und Perlen. Auch sein Blick war auf die Schneewolke gerichtet, die hinter dem Schlitten mit Matthew und Betty-Sue staubte. »Der Weg, den sie gehen wollen, ist voller Gefahren.«
Clarissa erschrak. »Er hat sie auf eine Schlittenfahrt eingeladen. Das heißt nicht, dass er sie heiraten will. Morgen früh werden wir nach Fairbanks zurückkehren, und sie wird ihn vergessen. Es ist besser, wenn sie ihn vergisst.«
»Ich weiß«, stimmte der Häuptling zu. »Wenn sich ein weißer Mann eine unserer Frauen nimmt, hat es nichts zu bedeuten, das haben wir auf grausame Weise erfahren. Doch wenn sie einen Indianer nimmt, wird es gefährlich.«
»Das ist wahr.« Sie blickte den Häuptling an, fühlte sich bemüßigt, sich bei ihm für die Haltung der Weißen zu entschuldigen. »Ich war oft bei Indianern eingeladen und betrachte sie als meine Freunde. Mir würde es gefallen, wenn eine Frau wie Betty-Sue und ein Mann wie Matthew heiraten könnten, denn dann wären wir irgendwann ein Volk, und es gäbe keinen Ärger und keine Kriege mehr. Aber so denken nur wenige.« Sie schien zuversichtlich. »Ich werde Betty-Sue klarmachen, wie gefährlich ein solcher Flirt sein kann.«
»Wenn es nicht schon zu spät ist«, sagte der Häuptling.
»Wie meinen Sie das?«
Der Häuptling blickte den Trail hinauf, obwohl der Schlitten mit Betty-Sue und Matthew längst verschwunden war. »Ich habe in ihre Augen gesehen, Clarissa. Und ich kenne dieses Funkeln aus der Zeit, als ich noch keine zwanzig Winter zählte und ein hübsches Mädchen beim Wasserholen abpasste. Das hübsche Mädchen wurde später meine Frau. Nein … sie wollen mehr als einen gemeinsamen Ausflug unternehmen. Ihre Fahrt soll niemals enden.«
Clarissa dachte lange über die Worte des Häuptlings nach, besonders abends, als sie sich um die Hunde kümmerte und Betty-Sue und den Indianer eng umschlungen zwischen den Bäumen stehen sah. Sie schienen sich gesucht und gefunden zu haben, die junge Krankenschwester aus San Francisco und der Indianer aus White Creek. Und als sie sich am frühen Morgen verabschiedeten, bemerkte auch Clarissa dieses verräterische Funkeln in den Augen der beiden.
»Sehen Sie sich vor, Betty-Sue!«, warnte sie, als das Indianerdorf schon einige Meilen hinter ihnen lag. »In Fairbanks haben sie gemeine Schimpfnamen für Frauen, die sich mit Indianern einlassen, selbst wenn sie es ehrlich meinen. Stellen Sie sich das Gerede vor. Sie könnten Ihre Arbeit verlieren!«
Betty-Sue schwieg eine ganze Weile, dann erwiderte sie: »Ich habe nichts Verbotenes getan, Clarissa. Außerdem ist er in einer Missionsschule aufgewachsen. Hat man ihn dort nicht gelehrt, dass alle Menschen gleich sind?«
»Das glaube ich kaum. Die Menschen sind nicht gleich, nicht mal in der Bibel. Oder hätte der Chefarzt des Golden Gate Memorial in San Francisco eine einfache Krankenschwester heiraten dürfen? Was meinen Sie, warum Frank Whittler glaubte, sich bei einer Haushälterin alles erlauben zu dürfen?«
Die Worte schienen Betty-Sue zu beeindrucken, dennoch sagte sie: »Ich habe lange keinen Mann mehr getroffen, der so freundlich zu mir war. Matthew ist ein guter Mann. Aber Sie haben recht, er wäre nicht gut für
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