Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
Vom Netzwerk:
mich.«
    »Ich will Ihnen nichts vorschreiben, Betty-Sue. Ich will nur, dass Sie keine Enttäuschung erleben.« Sie musste lachen. »Ich klinge schon wie eine besserwisserische Lehrerin, was? Oder wie meine Tante Agnes, die wusste auch immer alles besser. Eine Klugscheißerin … so nannte sie mein seliger Vater.«
    »Sie sind keine … keine Klugscheißerin, Clarissa.«
    Auf dem Rückweg nach Fairbanks kürzte Clarissa über den Chena River ab. Auf dem festen Eis und dem Trail, den Fallensteller und indianische Jäger vorgegeben hatten, ließ es sich leichter und schneller fahren. Im Osten war die Helligkeit verblasst, und düsteres Halbdunkel breitete sich über dem Fluss aus, ließ die Konturen der Ufer verschwimmen und die Berge und die Wälder zu schwarzen Schatten verkommen. Leichte Nebelschwaden zogen über den Trail, und am Himmel waren bereits wieder Wolken aufgezogen und verdeckten den Mond und einen Teil der Sterne. »Vorwärts! Bald habt ihr Ruhe vor mir!«, feuerte Clarissa die Hunde an. Buster wandte nicht einmal den Kopf.
    Der Leithund zuckte erst, als das Heulen eines Wolfes von den Bergen klang und als beängstigendes Echo über den Fluss hallte. Verstört brachen die Hunde nach links aus und blieben zwischen einigen Eisbrocken stecken. Noch einmal wehte der klagende Laut über die Uferböschung, strich über sie hinweg und verlor sich zwischen den Bäumen auf der anderen Seite.
    »Ein Wolf!«, erschrak Betty-Sue. Selbst in dem düsteren Halbdunkel, das über dem Fluss lag, erkannte Clarissa, wie blass die Krankenschwester geworden war. Noch blasser als ohnehin schon. »Der ist ganz in der Nähe!«
    »Keine Angst!«, erwiderte Clarissa ruhig. »Der tut uns nichts.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    Clarissa hatte der Schwester nichts von Bones erzählt und verschwieg den geheimnisvollen Wolf, der ihr seit Jahren zu folgen schien, auch diesmal. Sie hätte die Geschichte ohnehin nicht geglaubt und sie wahrscheinlich für verrückt erklärt. Ein Wolf, der sich keinem Rudel anschließt und Tausende Meilen zurücklegt, nur um einer Frau, die ihn vor dem Tod gerettet hat, zu helfen und ihr beizustehen … So etwas gab es doch nur in Märchen. Wölfe waren gefährliche Raubtiere, denen man nur mit einer Schusswaffe begegnen konnte.
    Ohne sich um Betty-Sue zu kümmern, stieg Clarissa vom Schlitten und kletterte die Böschung zum Ufer hinauf. Sie spürte den entsetzten Blick von Betty-Sue in ihrem Rücken, hörte die leise jaulenden Hunde, die ebenso große Angst wie die Schwester zu haben schienen. »Bones!«, rief sie mit gedämpfter Stimme, als sie das Ufer erreichte und den hageren Wolf erblickte.
    Bones stand breitbeinig im Schnee, ungefähr fünfzig Schritte von ihr entfernt. Seine Gestalt hob sich dunkel gegen den Schnee ab. Seine gelben Augen leuchteten. Er schien ihr etwas mitteilen zu wollen, und so unterwürfig, wie er sich in diesem Augenblick benahm, die Ohren angelegt und den Schweif zwischen den Hinterbeinen, konnte es nur eine Warnung sein. Mit seinem untrüglichen Instinkt ahnte er wohl ein Unheil, das selbst ihm, dem selbstsicheren Räuber, der furchtlos durch die Wälder streifte, große Angst einjagte. Nur wenn ein Wolf sich wirklich fürchtete, zeigte er sich so kleinlaut und unterwürfig. Hielt er bei den meisten Begegnungen noch eine Lösung parat, indem er ihr durch eine Bewegung oder eine Kopfdrehung anzeigte, in welche Richtung sie dem Unheil ausweichen konnte, schien es diesmal keine Rettung zu geben. Er jaulte nicht einmal, starrte sie nur mitleidig an.
    »Bones!«, flüsterte sie. »Was willst du mir sagen?«
    Der Wolf blieb stumm, drehte sich langsam um und trottete auf den Waldrand zu, der hinter ihm die Lichtung begrenzte. Dann war er verschwunden.

8
    Betty-Sue drehte sich fragend um, als Clarissa zum Schlitten zurückkehrte, sagte aber nichts, und auch Clarissa schwieg über ihre seltsame Begegnung mit dem Wolf. Wie in Trance lenkte sie den Schlitten nach Fairbanks, mit den Gedanken bei Alex, der irgendwo dort draußen mit dem Aufgebot durch die Wildnis fuhr und drei gefährlichen Verbrechern auf der Spur war. Sie hatte große Angst, dass Bones ihn gemeint hatte, seine Besorgnis ihrer Ehe galt, er eine Gefahr witterte, die sie erneut auseinanderbringen würde. Allein die Vorstellung, Alex könnte ein ähnliches Schicksal wie vor mehr als drei Jahren widerfahren, als er auf ein englisches Handelsschiff entführt und bis nach China verschleppt worden war, oder dass Frank

Weitere Kostenlose Bücher