Die Nacht der Wölfe
auch formulierte, vergaß Betty-Sue sogar die Kälte. »Das ist ja furchtbar!«, stieß sie leise hervor. »Und jetzt haben Sie Angst, dass es dem Marshal und seinen Männern nicht gelingen könnte, ihn zu verhaften. Bei dem Gedanken wäre ich wohl auch durchgedreht.« Sie wischte sich den Schnee von der Nase. »Aber was haben Sie davon, wenn Sie seinen Spuren folgen? Was können zwei Frauen wie wir gegen drei gefährliche Verbrecher ausrichten? Uns würde es genauso ergehen wie Louise, und bei uns würden sie sicher besser zielen. Überlassen Sie die Suche dem Marshal und seinen Männern, die kennen sich mit so was aus. Ich weiß, Sie leben schon lange hier draußen und haben keine Angst. Sie hatten schon mit Grizzlys und Wölfen zu tun, aber das sind eiskalte und schießwütige Verbrecher.« Sie lächelte schwach. »Und ich kann Ihnen bestimmt nicht helfen.«
»Sie haben recht, Betty-Sue.« Clarissa hatte ihren Fehler längst eingesehen und schalt sich eine Närrin, weil sie tatsächlich vorgehabt hatte, den Verbrechern zu folgen und Betty-Sue und sich selbst in Gefahr zu bringen. »Lassen Sie uns lieber ins nächste Dorf fahren und noch ein paar Zähne ziehen. Es sei denn, Sie haben bereits genug und wollen zurück nach Fairbanks.«
Jetzt lächelte auch Betty-Sue. »Nein, fahren Sie nur. Ich werde mich zwar nie an das Leben hier draußen gewöhnen, aber die Männer brauchen unsere Hilfe. Wenn es dort genauso zugeht wie in Fox, haben wir einiges vor uns.«
Clarissa warf einen nachdenklichen Blick auf die Überreste einer Feuerstelle und die Blutflecken im Schnee, der eindeutige Beweis dafür, dass die Banditen tatsächlich hier auf Louise geschossen hatten, sagte aber nichts und lenkte die Hunde auf den Trail zurück. Betty-Sue hatte recht. Es wäre leichtsinnig gewesen, den Spuren der Bande zu folgen oder in der Wildnis nach dem Marshal und seinem Aufgebot zu suchen. Sie hätte nicht nur sich, sondern auch die Schwester in große Gefahr gebracht und vielleicht ein Unglück heraufbeschworen, das ihr ganzes Leben zerstört hätte. Der indianische Fährtensucher würde die Spuren der Bande schon finden, und der Marshal hatte genug Männer dabei, um Frank Whittler und seine Männer zu überwältigen und festzunehmen. Alles, was sie tun konnte, war für sie zu beten.
Sie stieg auf den Schlitten und trieb die Hunde an. »Heya! Lauft, meine Lieben! Ihr habt gehört, was Betty-Sue gesagt hat. Im nächsten Dorf gibt es sicher jede Menge Patienten, und die wollen wir doch nicht warten lassen! Ich bin sicher, die Goldsucher haben ein paar Fleischreste für euch übrig. Vorwärts!«
7
Der eisige Fahrtwind, der ihnen vor allem auf den Hügelkämmen ins Gesicht blies, brachte Clarissa endgültig zur Besinnung. Ihre Gedanken waren wieder klar, und sie verstand plötzlich selbst nicht mehr, warum sie in ihrem Entsetzen über das verachtungswürdige Vorgehen von Frank Whittler bereit gewesen war, Betty-Sue und sich selbst in Gefahr zu bringen. Sie hatte etwas getan, das man in der Wildnis auf keinen Fall tun durfte: Sie war nur ihren Gefühlen gefolgt, der Wut auf den Millionärssohn, der erneut in ihrer Nähe aufgetaucht war und auch nicht davor zurückschreckte, auf ein kleines Mädchen zu schießen, und der Angst um ihren Mann, der vielleicht besser dran war, wenn er wusste, wo Frank Whittler und seine Bande gelagert hatten. Anscheinend hatte sie sich mit Annie Oakley verwechselt, eine Heldin aus den Buffalo-Bill-Heften, die besser ritt und schoss als jeder Mann und es auch mit den gefährlichsten Banditen aufnahm. Im wirklichen Leben verfolgte nicht einmal ein mutiger Mann wie der US Marshal die Verbrecher ohne ein starkes Aufgebot.
Der Trail nach White Creek, einem verschlafenen Goldgräbercamp am Ufer des gleichnamigen Flusses, führte über hügeliges Land. Im Zwielicht der arktischen Sonne, die nur als bleicher Schimmer am Horizont zu erkennen war, nahm der Schnee auf den weiten Hängen eine bläuliche Farbe an und wirkte beinahe unheimlich. Vereinzelte Baumgruppen hoben sich als dunkle Flecken davon ab. Clarissa beobachtete einen Adler, der nach Nahrung suchte und einsam seine Kreise am Himmel zog. Die Wildnis zeigte ihr schweigsames Gesicht, gab Betty-Sue ein Gefühl der Verlorenheit, das ihr Angst machte und sie nervös in die Runde blicken ließ, während Clarissa die Einsamkeit trotz des kalten Windes eher genoss und Zeit fand, ihre Gedanken zu ordnen.
White Creek wirkte noch schäbiger als Gold Creek, der Ort
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