Die Nacht der Wölfin
Clays Warnungen vor Daniel Glauben zu schenken.
Die Frau im Schrank war nicht Daniels erstes Opfer gewesen. Als er das Rudel verließ, hatte er zugleich auch seine Regeln und Lehren aufgegeben und war ein Menschentöter geworden. Wie alle erfolgreichen – und langlebigen – menschentötenden Mutts hatte Daniel herausgefunden, worin der Trick bestand, der gleiche Trick, den auch ein Wolf anwendet, wenn er sich einer größeren Gruppe von Beutetieren gegenübersieht: Man nimmt vom Rand. Wenn man sich an die Ausgegrenzten hält – die Drogenabhängigen, die jugendlichen Ausreißer, die Prostituierten, die Wohnsitzlosen –, stehen die Chancen gut, dass man straflos davonkommt. Warum? Weil es niemanden auch nur im Geringsten interessiert. Oh, natürlich sagen sie etwas anderes, die Polizeibeamten und Politiker und alle anderen, deren Aufgabe es ist, für die Einhaltung von Recht und Gesetz zu sorgen, aber in Wirklichkeit interessiert es sie keine Spur. Leute können verschwinden, und solange sie verschwunden bleiben, stört es niemanden. Und ich rede nicht über die Diktaturen der Dritten Welt oder auch nur über US-amerikanische Großstädte mit erschreckender Kriminalitätsstatistik. In Vancouver waren in einem einzigen Stadtviertel über zwanzig Prostituierte verschwunden, bevor die Behörden ein Problem zu erkennen begannen. Glauben Sie mir, wenn all diese Frauen Studentinnen an der University of British Columbia gewesen wären, wäre die Hölle los gewesen. Genau hier lag der Fehler, den Thomas LeBlanc machte, als er sich die Frauen und Töchter mittelständischer Familien als Beute aussuchte. Hätte er sich an Huren und Ausreißerinnen gehalten, hätte er heute noch ein florierendes Geschäft in Chicago. In all meinen Debatten mit Jeremy über die Unfairness des hierarchischen Rudelsystems habe ich immer das demokratische menschliche Modell vertreten, in dem theoretisch jeder Mensch gleich wichtig ist. Natürlich war das Blödsinn. Das Rudel hatte eine strikte Hierarchie, aber es würde nicht einmal den Tod des allerletzten Omegamitglieds ungerächt lassen.
Als wir zu Hause angekommen waren, bat Jeremy mich, ihm bei der Versorgung seiner Verletzungen zu helfen. Vielleicht weil er sich einbildete, ich würde eine sanftere und generell erträglichere Krankenschwester abgeben als die Männer? Ganz sicher nicht. Jeremy mochte von Frauen nicht viel verstehen, aber er hatte über diese eine Frau immerhin genug gelernt, um mich nicht mit Florence Nightingale zu verwechseln. Wahrscheinlich nahm er an, dass ich mich, wenn man mich vor die Wahl zwischen Krankenpflege und Gräberschaufeln stellte, sehr viel eher für den weißen Kittel und das Häubchen entscheiden würde. Meine letzte Erfahrung an einem frischen Grab war nicht so ausgefallen, dass ich sie früher als unbedingt nötig wiederholen wollte. Wenn ich mich um Jeremy kümmerte, konnte ich wenigstens verdrängen, was zum gleichen Zeitpunkt hinter dem Haus vor sich ging.
Unter normalen Umständen wäre es Jeremy gewesen, der die Krankenpflege übernahm. Er war der Rudelarzt. Nein, das ist keine altehrwürdige Tradition, die unter Werwölfen von Generation zu Generation weitervererbt wird. Es war etwas, das Jeremy übernommen hatte, nachdem Clay als Kind einmal fünf Stockwerke tief einen Aufzugschacht in einem Kaufhaus hinuntergesprungen war (keine weiteren Fragen bitte) und sich mehrfach den Arm gebrochen hatte. Jeremy wollte Clays Bewegungsfähigkeit nicht riskieren, indem er den Arm provisorisch schiente, und brachte ihn zu einem Arzt. Obwohl er sehr vorsichtig war und religiöse Gründe dafür anführte, dass er keine Blutuntersuchungen und sonstige Laboranalysen wollte, nahm der Arzt sie trotzdem vor. Die Resultate wären vielleicht nicht weiter aufgefallen, weil sie nichts mit dem gebrochenen Arm zu tun hatten, aber während der Nachtschicht entdeckte ein gelangweilter Laborassistent etwas Merkwürdiges in den Daten und rief um zwei Uhr morgens Jeremy an. Werwolfblut ist anders. Keine Ahnung, inwiefern und warum – ich habe in der zehnten Klasse nur mit Müh und Not die Biologieprüfungen bestanden. Ich weiß lediglich, wir sollten unter keinen Umständen Blut abnehmen und untersuchen lassen. Was immer der Assistent in Clays Ergebnissen gesehen hatte, er schloss daraus, dass Clay irgendetwas Lebensgefährliches hatte, und wies Jeremy an, ihn sofort in ein Krankenhaus zu bringen. Das Ergebnis des ganzen Durcheinanders war, dass sowohl der Assistent als
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